Rechtsstaat in der Krise: Weltweit weniger Demokratie und Freiheit
Demokratie und Freiheit breiten sich aus auf der Welt? Mitnichten. Der Abbau von Rechtsstaatlichkeit und politischen Freiheiten steigt, die Zahl der Menschen, die weltweit weniger demokratisch und schlechter regiert werden, wächst. Das ist das doch eher überraschende Ergebnis einer Studie der deutschen Bertelsmann-Stiftung.
Und die Studienautoren haben noch eine schlechte Nachricht parat: Diese Entwicklung könnte durch die Corona-Pandemie und die Maßnahmen, die gegen sie oder in ihrem Namen gesetzt werden, verstärkt werden.
Notstandsgesetze
Als Beispiel werden die ungarischen Notstandsgesetze genannt, mit denen die Gewaltenteilung zeitlich begrenzt aufgehoben und Premier Viktor Orbàn quasi Allmacht in die Hand gegeben wurde. „Die Bekämpfung von Covid19 fördert den Trend zu einer starken Exekutive“, heißt es in dem am Mittwoch in Gütersloh vorgestellten Transformationsindex (BTI).
Ungarn ist nicht das einzige Beispiel für einst stabile Demokratien, die ins Wanken geraten sind: Der Hindu-Nationalismus in Indien und der Rechtspopulismus in Brasilien, der unter Präsident Jair Bolsonaro nicht erst in der Corona-Krise aberwitzige Ausformungen zeigte, etabliere autoritäre Mechanismen, kritisiert die Studie.
Der Transformationsindex (TI) untersucht alle zwei Jahre diverse Punkte wie Presse- und Meinungsfreiheit und die Bedeutung der Rechtsstaatlichkeit in Staaten dieser Welt im Vergleich zum Stand vor zehn Jahren. Sie wird seit 2004 durchgeführt. Für den aktuellen Index wurden 137 Entwicklungs- und Schwellenländer herangezogen. Die Studie basiert auf Berichte von 280 Experten an Universitäten und in Thinktanks.
54 Prozent Demokratien
Der Anteil an Demokratien liegt bei 54 Prozent, drei Prozentpunkte weniger als 2010. Zu den als Autokratie einzustufenden Staaten seien Bangladesch, Guatemala, Honduras, Kenia, Mosambik, Nicaragua, Uganda und die Türkei dazu gekommen.
Die Gewaltenteilung sei in 60 Staaten erkennbar ausgehöhlt worden. Presse- und Meinungsfreiheit gingen laut der Bertelsmann-Studie in der Hälfte der untersuchten Länder zurück.
Als Ursachen machen die Studienautoren Machtsicherung und Vetternwirtschaft fest, die zur sozialen Spaltung der Gesellschaft beitrügen. Im Weltdurchschnitt seien schwache Sozialsysteme , hohes Armutsrisiko und strukturelle wirtschaftliche Diskriminierung von Frauen und Minderheiten der Normalfall. Alle diese Werte seien im Vergleich zu 2010 gestiegen
„Nationalismus und Klientelpolitik sind nicht neu, aber sie sind weltweit salonfähig geworden“, sagt Bertelsmann-Vorstandsmitglied Brigitte Mohn. „Auch einstige demokratische Vorreiter, die wie Polen und Ungarn mitten in Europa liegen, gehören heute zu den Problemfällen in puncto Rechtsstaatlichkeit und Demokratiequalität.“
Westeuropa ungefährdet?
Was die Warnung der Autoren in Sachen Corona-Pandemie und Ausweitung autoritärer Tendenzen betrifft, ist der Politikwissenschaftler Peter Hajek für Westeuropa und Österreich relativ gelassen: „Ich würde nicht sagen, dass Österreich gefährdet ist, den demokratischen Boden zu verlassen. Die Meinungsfreiheit ist nicht eingeschränkt, das Parlament funktioniert, die Gewaltentrennung ist da“, sagt Hajek zum KURIER. Die Einschränkungen des (öffentlichen) Lebens kämen hier wie anderswo in Westeuropa eindeutig auf demokratischer Basis zustande.
Werden westeuropäische Staaten von der Studie also nicht erfasst, weil man davon ausgeht, dass dort alles in demokratischer Ordnung ist? „Die Frage stellt sich mit zunehmender Dringlichkeit für einige Fälle“, sagt Hauke Hartmann von der Bertelsmannstiftung indes vielsagend, will aber keine nennen. Die Studie sei eben auf Transformationsstaaten abgestellt und darauf, wie die in Richtung Rechtsstaatlichkeit gelangen – oder auch nicht.
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