Ex-Premier Tony Blair: "Putin hat Europa geeint"
Tony Blair war britischer Premierminister, als Putin an die Macht kam. Er hat viele seiner Gesichter gesehen. Dieses Interview wurde von der New York Times organisiert, der KURIER konnte sich mit Fragen einbringen.
Ist Russland nach drei Monaten Krieg geschwächt?
Tony Blair: Die Fehleinschätzung Putins wird Russland schwächen, schon allein aufgrund des militärischen Verlusts. Aber unser Ziel muss es zuerst sein, Russlands Aggression in der Ukraine zu zerschlagen und die Russen zum Rückzug zu bewegen, und das auf eine Art, die die Ukrainer und ihr Präsident akzeptieren können.
Will der Westen ein schwächeres Russland?
Es liegt klarerweise im Interesse des Westens, dass Putin so einen Krieg nie wieder auslöst. Das hier ist ein außergewöhnliches Beispiel für grundlose Aggression. Niemand hat Russland provoziert. Wir sprechen von einem Land, das an der Grenze der Europäischen Union ist, das im Wesentlichen ein europäisches Land ist. Seit ich die Politik verlassen habe, war ich jedes Jahr in der Ukraine. Es war undenkbar, dass jemand einmarschiert und einen demokratisch gewählten Präsidenten stürzt.
Europa ist wirtschaftlich abhängig von Russland. Wird das unsere Einstellung in Bezug auf alternative Energien ändern, oder suchen wir jetzt einfach andere autokratische Länder, die uns versorgen können?
Es gibt Autokratien, die keine Bedrohung für andere Länder darstellen, und es gibt Putins Version, die das offensichtlich tut. Aber der Wechsel und der Übergang zu alternativen Energien ist für Europa ein sehr dringender. Wir hätten es schon nach der Einnahme der Krim tun sollen. Wir zahlen immer noch täglich hohe Summen an Russland für Gas und Öl, und das ist ein Problem. Viele europäische Länder sind fast bis zu 50 Prozent von Russland abhängig und suchen jetzt sehr schnell nach einem anderen Markt, und das unter sehr schwierigen wirtschaftlichen Einbußen.
Wie wichtig ist Aufrüstung für Europa? Muss die NATO stärker werden?
Die Antwort lautet: ja. Deutschland hat vor, mehr Geld in die Verteidigung zu investieren, Großbritannien ebenfalls. Das ist eine große Veränderung. Die Ironie an der Geschichte ist, dass Putin Europa geeint hat. Er hat der NATO Sinn und Zweck gegeben und Amerika und Europa auf eine Weise zusammengeführt, die seit Jahren nicht mehr existierte.
Sie waren daran beteiligt in den 1990er- und 2000er-Jahren, die NATO zu erweitern. War das wegen der Bedrohung, die Russland dadurch empfand, ein Fehler?
Fragen Sie Polen und die Tschechische Republik. Ich glaube, die sind sehr glücklich darüber, dass sie der NATO beigetreten sind. Als die Mauer fiel und damit die Sowjetunion, hatten Polen und die Ukraine so ziemlich das gleiche Bruttonationalprodukt. Polen trat der EU bei und verdoppelte es.
Warum, glauben Sie, fühlt sich Putin bedroht – wenn es nicht nur eine Ausrede ist?
Ich habe kürzlich mit Ex-Präsident Clinton darüber gesprochen, wie seltsam sich die russische Situation entwickelt hat. Wir haben jede Anstrengung unternommen, um sicherzugehen, dass die NATO sich nicht gegen Russland stellt. Wir haben eine Partnerschaft zwischen Russland und der NATO aufgebaut. Als ich 2005 den G7-Gipfel leitete, war es eigentlich G-8, denn Russland war dabei. Diese Idee, dass wir Russland eingekreist und Druck ausgeübt hätten, dass wir provoziert hätten, das ist eine Geschichtsverfälschung. Die westliche Expansion war nie gegen Russland gerichtet.
Tony Blair
Der Brite war von 1997-2007 Premier in London, danach bis 2015 Nahost-Sondergesandter. Seither ist der heute 69-Jährige Vorsitzende des Tony Blair Instituts for Global Change .
Kriege
Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 in den USA stellte sich Blair kompromisslos an die Seite von US-Präsident Bush, was ihm den Beinamen „Bushs Pudel“ einbrachte. Er trug die Invasion in Afghanistan genauso mit wie den Irakkrieg (2003-2011) gegen Saddam Hussein.
Wie war Ihre Beziehung zu Putin, als sie Premier waren?
Ich hatte mit Putin eine Konversation und sagte ganz klar, dass wir kein Problem mit einem Russland haben, das seine Ressourcen nützt und eine starke Wirtschaft aufbaut. Aber seit 2004, 2005 war er mehr und mehr von der Idee besessen, dass wir ihn angreifen wollen.
Nach 9/11 hatte es den Anschein, Putin könnte eine Art Partner sein. Wann begann Putins Veränderung?
Ich habe ihn mehrmals getroffen und kannte zwei Versionen von Putin. Ich befürchte, dass es jetzt eine dritte gibt. Die erste war die, als er Premierminister war, bevor er Präsident wurde. Er wollte damals eng mit Europa und der NATO zusammenarbeiten. Dann kam die zweite Persönlichkeit zum Vorschein, und das war schon vor dem Irakkrieg. Ja, Irak und Afghanistan haben ihm gezeigt, dass der Westen gewillt war, seine Macht zu nützen, aber keine dieser Militäraktionen gingen gegen Russland. Ich glaube, dass seine ursprüngliche Ambition, die russische Wirtschaft zu reformieren und zu stärken, sich zu schwierig gestaltete. Dazu baute sich um ihn eine Serie von westlichen Interessen auf, massiver Reichtum von Leuten, die ihm sehr nahestanden. Und er drehte seinen Kurs auf Nationalismus um. Es ist eine leichte – und in meinen Augen törichte – Handlungsweise, nationalistisch zu werden. Wenn ich das mache, spiele ich mit den Emotionen meiner Bürger und füttere die Idee, dass die Welt sich gegen uns verbündet. Und daher werden wir uns verteidigen.
Was ist seine dritte Persönlichkeit, die sich jetzt zeigt?
Das ist die jenseits jeder Realität. Er behauptet, er habe schlechte Geheimberichte über die Ukraine bekommen. Man hätte Touristen in die Ukraine schicken können, und sie hätten berichtet, dass die Ukrainer Putin nicht willkommen heißen werden! Dass sie natürlich kämpfen werden. Da muss man schon sehr daneben sein, um das nicht zu verstehen. Wenn Putin nicht schon so lange an der Macht wäre, wenn er sich nicht mit Leuten umgäbe, die ihm nur sagen, was er hören will, hätte er die Ukraine nie angegriffen.
Was wird Putin jetzt tun?
Ich denke, er verändert nun seine Strategie, lässt die Idee fallen, die Demokratie in der Ukraine zu zerschlagen und eine Scheinregierung unter dem Einfluss des Kremls zu installieren. Russland konzentriert sich nun auf den südlichen Korridor um die Donbass-Region, Transnistrien und Moldawien. Aber selbst das ist nicht leicht. Putin hat mehr Soldaten in wenigen Monaten verloren als die USA und Großbritannien zusammengerechnet im gesamten Afghanistan- und Irakkrieg!
Was antworten Sie Kritikern, die sagen, dass das, was Großbritannien und Amerika in diesen beiden Ländern gemacht haben nicht anders sei als das, was Russland nun mit der Ukraine tut?
Das ist kein Argument, nicht mal wenn man komplett gegen das war, was wir im Irak und Afghanistan machten. Saddam Hussein zu stürzen, der zwei regionale Kriege begann, Hunderttausende Menschen umbrachte, inklusive seiner eigenen Bürger und 12.000 in einem Chemieangriff an einem einzigen Tag, und den seine eigenen Landsleute loswerden wollten, ist nicht dasselbe wie ein Einmarsch in ein Land, das niemals irgendwelche Probleme mit seinen Nachbarn hatte und das einen demokratisch gewählten Präsidenten hat, den sie nun stürzen wollen. Der Vergleich ist also vollkommen ungerechtfertigt.
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