Manche Beobachter nannten ein Video als Auslöser der Proteste, in dem ein Polizist einen Schäfer erniedrigt und schubst, weil ein Tier ein öffentliches Grundstück betrat.
Bis Sonntag galt neben den Ausgangsbeschränkungen tagsüber in Tunesien ein abendliches Ausgangsverbot ab 16 Uhr. Die Pandemie und die damit zusammenhängenden Maßnahmen verschlechterten die wirtschaftliche Situation der meisten Tunesier noch weiter.
"Es ist der Unmut über die wirtschaftliche und soziale Situation, der hier ausgedrückt wird", sagt Holger Dix, den der KURIER im Tunis-Büro der Konrad-Adenauer-Stiftung erreicht. Während die Armut ansteigt, werden auf politischer Ebene Machtspiele gespielt. Seit 2010 gab es mehr als zehn Regierungen.
Viele, die einst hofften, dass mit der Demokratie auch Prosperität und Wachstum kommen, sind enttäuscht. Mancher wünscht sich die "Stabilität" der Autokratie zurück. 58 Prozent der Tunesier sehen die Revolution als gescheitert an, 48 Prozent finden, dass sich seither ihre persönliche Lage verschlechtert hat. Wesentlich verbessert habe sich hingegen die Menschenrechtslage, die Redefreiheit und die Situation der Frauen.
Wie haben die Behörden reagiert?
Die Polizei und die Justiz halten sich offenbar nicht zurück. Die Polizei setzte vielerorts Wasserwerfer und Tränengas ein, Tausende, teils Minderjährige, wurden verhaftet. Mindestens zwei der am Wochenende Verhafteten wurden in einem Schnellverfahren zu zwei Jahren Haft verurteilt. "Die Regierung versucht offenbar, Härte zu zeigen", sagt Dix.
Was wollen die jungen Tunesier?
In erster Linie Jobs – vor allem eine Perspektive. "Man sieht vor allem junge Menschen, die teils gewalttätig wurden", sagt Dix. In kleineren Städten attackierten sie etwa Post oder Polizei, die für sie die "Regierung" verkörpern.
Tunesien befindet sich in der Krise, die wirtschaftliche und soziale Situation hat sich seit der Revolution verschlechtert – mit Covid-19 wurde das auch noch verschärft. Dix: "Jungen Tunesiern fehlt die Perspektive. Nicht nur die Gegenwart ist hart, sondern auch die Zukunft."
"Es war vorauszusehen dass das Volk verärgert ist", sagt die tunesische Journalistin Ines Mohdhi Oueslati und zählt die Gründe auf: "Keine Schule kein Platz in den Spitälern, Armut, Kälte."
Steht die Bevölkerung hinter den Protesten?
Über das Verständnis gegenüber den Jugendlichen sind die Meinungen geteilt. Während viele Erwachsene ihnen beipflichten, nennen andere sie "Vandalen" oder "Plünderer". Rached Ghannouchi, prominenter Gründer der islamistischen Partei Ennahdha kommentierte nur, die Jugendlichen seien verwirrt: "Vandalismus schafft keine Jobs."
Präsident Kais Saied rief zur Beruhigung auf, er verstehe den Frust, aber die jungen Tunesier sollen sich nicht "instrumentalisieren" lassen.
Wie steht es um die tunesische Wirtschaft wirklich?
Die wirtschaftlichen Daten sind ernüchternd: Das schwache BIP ist mit der Pandemie im Vorjahr um weitere 9 Prozent gesunken, die Arbeitslosigkeit beträgt offiziell 16 Prozent, die Jugendarbeitslosigkeit soll doppelt so hoch sein. Wegen des ausbleibenden Tourismus sind auch viele als sicher geltende Jobs weg. Auch viele Akademiker sind arbeitslos.
Steht deshalb eine Migrationsbewegung bevor?
Möglicherweise. Aufgrund der ökonomischen Lage geben rund 40 Prozent der Unter-30-Jährigen an, das Land verlassen zu wollen. Unter Akademikern sind es 48 Prozent. Das Land leidet bereits jetzt unter dem Braindrain, der Abwanderung von gut ausgebildeten Tunesiern, insbesondere im Gesundheitsbereich.
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