Meuterei der Vorstadt-Polizisten

Pariser Polizisten protestieren gegen die zunehmenden Angriffe auf Kollegen.
Nächtliche Wutmärsche von Polizisten nach Attacken in Pariser Vorstädten.

Nacht für Nacht wiederholen sich in Paris und mehreren französischen Provinzstädten die selben Szenen: jeweils hunderte Polizisten – manche in Uniform, die meisten in Zivil und teilweise sogar mit Schals und ins Gesicht gezogene Kapuzen vermummt – versammeln sich zu überraschenden und theoretisch illegalen Demonstrationen vor Kommissariaten und anderen Ämtern. Anlass sind die immer brachialeren Attacken von Jugendlichen und Halbwüchsigen auf Beamte bei Einsätzen in sozialen Brennpunktvierteln, wobei die Polizisten über personelle Überlastung, mangelnde Ausrüstung und einer – ihrer Meinung nach – nicht angemessene Ahndung der Vorfälle durch die Justiz klagen.

Begonnen hatten die Wutmärsche der Polizisten in der Nacht von Montag auf Dienstag: rund 500 Polizisten, etliche in Uniform sowie unter Einsatz von dutzenden Amtsfahrzeugen mit Blaulicht und Sirenen, hatten die Champs-Elysée in Beschlag genommen. Dem überraschenden Spektakel wohnten zahllose verdatterte Nachtbummler und Touristen bei. Eigenmächtig riegelten die demonstrierenden Beamten die viel befahrene Pariser Pracht-Avenue für den übrigen Autoverkehr ab. Anschließend versammelten sie sich unter dem Triumphbogen, um die französische Nationalhymne anzustimmen.

Angst um Präsidentenpalais

Währenddessen hatten die Behörden eilends Angehörige von Sonderschutz-Einheiten zusammengezogen, um vorsichtshalber die Zufahrtsstraßen zum Präsidentenpalais und Innenministerium zu sperren.

Die illegal aufmarschierten Polizisten waren in umso aufgebrachter Stimmung, als sie sich knapp vorher, ebenfalls zu hunderten, bei jenem Pariser Spital versammelt hatten, in dem ein 38 jähriger Beamter wegen schwerster Verbrennungen in künstlichem Tiefschlaf gehalten wird. Der verletzte Polizist war am 8.Oktober gemeinsam mit zwei Kolleginnen und einem jungen Polizei-Aspiranten nur knapp dem Tod entgangen. Sie waren vor einer Straßenkreuzung, am Rande einer Sozialbau-Siedlung südlich von Paris, aufgeteilt auf zwei Streifenwagen stationiert gewesen. Ihre seltsame Mission: die Überwachung einer Überwachungskamera, die bereits mehrmals zerstört worden war.

Diese Video-Kamera war installiert worden, weil Jugendliche aus der Siedlung vor der Kreuzung haltende Autofahrer überfallen und ausgeraubt hatten. Die Siedlung gilt auch als Hochburg des Drogendeals.

Versuchter Brandmord an Polizisten

Rund fünfzehn Vermummte hatten sich an die beiden Streifenwagen herangeschlichen, die Fenster eingeschlagen, Molotowcocktails ins Innere geworfen und die Beamten am Öffnen der Türen zu hindern versucht. Die Polizisten überlebten nur, weil sie die Türen trotzdem aufbrachten, und die Täter flüchten mussten, während Anrainer Alarm schlugen.

Eine Woche später erlitten Polizisten in einer Sozial-Siedlung im westlichen Pariser Einzugsgebiet einen Angriff durch rund hundert Jugendliche, die ebenfalls Molotowcocktails einsetzten. Herbeigelockt wurden die Polizisten durch einen Trick, der in Pariser Vororten schon Tradition hat: Abfalleimer und PKWs wurden angezündet. Weil aber die herbeigerufene Feuerwehr ebenfalls mit Angriffen rechnen muss, rückt sie nur mit Polizei-Eskorte an – auf die dann eine Bande von entsprechend ausgerüsteten Jugendlichen lauert.

Außerdem kam es zuletzt zu einer Reihe tätlicher Angriffe auf Lehrer und Direktoren von Berufsschulen nördlich von Paris, teilweise durch schulfremde Banden. In einem Fall wurde eine Schuldirektorin niedergeschlagen, während über 50 Jugendliche sich der herbeigerufenen Polizei entgegenstellten und dabei Feuerwerkskörper (die als eine Art Mörser zweckentfremdet werden) auf die Beamten schossen.

Zerschlissene Schutzwesten

„Wir verabschieden uns von unseren Ehepartnern und Kindern jeden Tag so als wäre es unser letzter Tag“, erklärte eine demonstrierende Beamtin. Der Polizei im Großraum um Paris mangele es an allem: Kommissariate seien „Bruchbuden“, die Eingangstüren seien oft defekt, die kugelsicheren Westen seien abgetragen und verschlissen, auf neue müsse man ein Jahr warten. Polizisten, die auf Qualitätsmaterial Wert legen, müssten sich auf eigene Kosten ausrüsten.

Innenminister Bernard Cazeneuve warf anfänglich den demonstrierenden Polizisten vor, sie würden durch ihre Aktionen gefährliche Lücken in die Schutzpläne gegen den Terror reissen. Er kündigte Disziplinarverfahren an. Die Fortsetzung der Proteste hat jetzt aber dazu geführt, dass die sozialistische Regierung und Staatschef Francois Hollande ihr „Verständnis“ für die Polizisten äußern und Unterredungen mit den Polizei-Gewerkschaften häufen. Diese Gewerkschaften, die von den Protesten der Beamten ebenfalls überrascht wurden, wollen die Wut ihrer Basis durch eine für nächsten Mittwoch angekündigte legale Demonstration abfangen.

Durch Anti-Terror-Maßnahmen überlastet

Die sozialistische Staatsspitze um Präsident Hollande kann immerhin darauf verweisen, dass sie die Polizeikräfte um 9000 Posten aufgestockt hat, nachdem unter dem bürgerlichen Staatschef Nicolas Sarkozy 13.000 Stellen abgebaut und die ursprüngliche Nahbereichspolizei abgeschafft worden waren. Aber die Ausbildung der neuen Polizei-Aspiranten erfordert Zeit.

Außerdem ist ein beträchtlicher Teil der Sicherheitskräfte durch die enorm gewachsenen Anforderungen des Anti-Terror-Schutz gebunden und überlastet. Dazu kam vor dem Sommer die Bewältigung einer Welle von Demonstrationen gegen die Arbeitsmarktreform, bei denen gewalttätigen Gruppen für Zusammenstöße sorgten. Gleichzeitig musste die Sicherheit der Fußball-Europameisterschaft gewährleistet werden. In etlichen Polizei- und Gendarmerie-Einheiten wurden Urlaube zusammengestrichen. Der Polizei-Bestand im weiteren Pariser Einzugsgebiet wurde zum Teil vernachlässigt.

Im Visier eines Teils der Polizeigewerkschaften steht auch der angeblich „zu laxe“ Umgang der Justiz mit minderjährigen Gewalttätern. Dabei verhängen französische Richter vergleichsweise oft Gefängnisstrafen auch gegen Jugendliche unter 18 Jahren. Ebenso ist die Debatte darüber entbrannt, ob das aktuelle Recht auf Waffengebrauch im Notwehrfall für Beamte ausreichen würde, um der jetzigen Angriffswelle zu begegnen. Aber auch diesbezüglich zeigt die Praxis der französischen Justiz, dass es kaum zu Verurteilungen von Beamten wegen Notwehrüberschreitung kommt.

Anti-Rassismus-Politiker fordert „Offensive gegen Gesindel“

Darauf verweisen auch Menschenrechts-Organisationen, Bürgerinitiativen und Sozialbetreuer, die vor einem „Freibrief für Polizeigewalt“ warnen: Schon bisher würden franko-arabische und franko-afrikanische Jugendliche demütigenden Dauerkontrollen und gelegentlichen Übergriffen durch die Polizei ausgesetzt sein, die kaum geahndet werden.

Allerdings sind auch namhafte Persönlichkeiten im linken Politmilieu mit Migrationshintergrund der Ansicht, dass eine noch schärfere Vorgangsweise der Sicherheitskräfte gegen die gewalttätige Minderheit unter den Jugendlichen in Vororten nötig wäre. Etwa Malik Boutih, ein prominenter sozialistischer Politiker, der aus einer algerischen Familie stammt und zuvor als Chef der Bewegung „SOS-Rassismus“ (vergleichbar mit „SOS Mitmensch“ in Österreich) wirkte. Boutih hat soeben erklärt, bei den jungen Angreifern auf die Polizisten in den Vororten würde es sich um „eine Art von Kamikaze“ handeln: „Ränder der Bevölkerung wollen Polizisten töten“. Gegen dieses „Gesindel“ sei eine „Offensive“ nötig, um die „Mehrheit der gutwilligen Jugendlichen“ in den Vororten fördern zu können.

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