Miriam Beller: In Cafés und Bars sprechen die Menschen kaum mehr über kritische Themen, aber ja, im privaten Raum wird es mehr. In der U-Bahn merkt man, dass die Menschen teils richtig paranoid sind – sie halten das Handy so nah an sich, dass niemand sehen kann, was sie ansehen, welche möglicherweise kritischen Telegram-Channels sie lesen. Eine Freundin erzählte mir, dass dies das Dating-Leben stark beeinflusst – nach Verabredungen hat sie manchmal Angst, zu viel oder gar etwas Falsches gesagt zu haben.
➤ Nach Propagandavorwurf: Was wird aus ORF-Mann Wehrschütz?
Wie präsent ist der Krieg im Alltag? Kennt jeder jemanden, der eingezogen oder gefallen ist?
Paul Krisai: Die Großstädte wie Moskau und Sankt Petersburg sind gut abgeschirmt von der Last und vom Blutzoll des Krieges. In der Provinz merkt man die persönliche Betroffenheit dafür umso stärker. In Burjatien am Baikalsee oder in Wladiwostok im fernen Osten hat man das Gefühl, dass so gut wie jeder jemanden kennt, der in der Ukraine kämpft oder dort bereits gestorben ist. Auf Friedhöfen sieht man viele frische Soldatengräber. Proteststimmung ist aber nicht im Geringsten zu merken – die repressiven Gesetze, die Propaganda funktionieren effektiv.
In Ihrem Buch beschreiben Sie zwei Bekannte, die schicksalsergeben in den Krieg ziehen, obwohl sie eigentlich gegen die Invasion sind. Diese Widersprüchlichkeit – bis hin zu Selbstaufgabe – findet man überall in der russischen Gesellschaft. Ist das alles Putins Verdienst?
Paul Krisai: Die Apathie in der Gesellschaft ist tatsächlich unheimlich stark. Man trifft ständig Menschen, die behaupten, sie könnten nichts entscheiden, das könnten nur ihre politischen Anführer. Das ist eine angelernte apolitische Haltung: Vor allem in Putins ersten Jahren gab es im Gegenzug dafür, dass man seine Freiheiten und demokratischen Rechte schrittweise aufgegeben hat, wirtschaftliche Stabilität, teils sogar Wohlstand. Diesen Gesellschaftsvertrag hat Putin jetzt gebrochen, in Wahrheit fordert er nicht mehr nur die Aufgabe sämtlicher Rechte, sondern auch des eigenen Lebens. Anbieten kann er nur mehr die Illusion eines Verteidigungskrieges gegen den Westen – aber selbst dieses Narrativ verfängt noch gut.
Miriam Beller: Eine Rolle spielt sicher auch die nicht aufgearbeitete Geschichte – die Unterdrückung im Russischen Reich, die Repressionen Stalins, die 23 Jahre unter Putin, in denen den Menschen ein ruhiges Leben versprochen wurde, wenn sie sich nur von der Politik fernhalten. Das trägt dazu bei, dass die Menschen hoffen, von der Außenwelt einfach nicht berührt zu werden. Es gibt eine so große Distanz zwischen Bevölkerung und Elite, dass da keine Verbindung mehr ist – und vor allem keine gegenseitige Rechenschaftspflicht.
Putin hat mit diesem Gesellschaftsvertrag aber auch versprochen, dass es den Menschen kontinuierlich besser geht. Nun ist Russland sanktioniert worden, der Kreml verschleiert Wirtschaftskennzahlen, es gibt sogar Abteilungen in Ministerien zur Sanktionsumgehung. Bringt das die Menschen nicht auf?
Miriam Beller: Ich denke mir mittlerweile auch, dass der Gesellschaftsvertrag vor dem Krieg wohl vor allem in den Großstädten funktioniert hat. In den ländlichen Gebieten, wo viele Menschen immer schon am Existenzminimum gelebt haben, konnten sich die Leute schon vor der Invasion keine westlichen Konsumgüter leisten. In den Städten merkt man die Sanktionen schon, es gibt eine allgemeine Unsicherheit – meine Freunde etwa überlegen dreimal, ob sie eine Wohnung kaufen, ob sie investieren. Aber die Menschen sind extrem anpassungsfähig – die westlichen Geschäfte fehlen, also gehen sie einfach nicht mehr zu McDonald“s, sondern zur russischen Kopie „Wkusno – i totschka“.
Dazu gab es im Westen eine überzogene Erwartungshaltung: Man hoffte, dass die Sanktionen den Krieg schnell beenden, aber das war nie realistisch.
Paul Krisai: Ja, die Wirtschaft ist zwar nicht zusammengebrochen, aber der Öl- und Gas-Gigant Russland gerät langsam ins Wanken. Es gibt starke Rückgänge bei den Einnahmen aus fossilen Energien, das Öl-Embargo und der Ölpreisdeckel wirken. Das Budgetdefizit ist so hoch wie nie in der jüngeren Geschichte Russlands. Moskau hat zwar noch viele Ressourcen, kann den Krieg weiter finanzieren, muss aber immer mehr Reserven anzapfen, und auch der Rubel ist am Boden. Das kann selbst die Zentralbank, die viel Erfahrung im Abwenden und Abfedern hat, nicht mehr aufhalten – und das gibt der russischen Führung in gewisser Weise zu denken.
Sie beschreiben, dass Sie während des Wagner-Aufstands kurzfristig auf gepackten Koffern saßen. Hat sich seither etwas verändert ?
Miriam Beller: Das ist wirklich ein Phänomen: Diese Zäsuren – der Kriegsbeginn, die Mobilisierung, die Wagner-Revolte, der Flugzeugabsturz Prigoschins – nehmen kurzfristig Einfluss auf die Gesellschaft, doch dann pendelt sich alles wieder ein. Dann herrscht eine „neue Normalität“, die mit jedem Ereignis auf ein neues, niedrigeres Level sinkt.
Paul Krisai: Die Meuterei ist gerade drei Monate her, und es wirkt, als wäre sie nie geschehen. Es ist erstaunlich, in welchem Tempo die Dinge hier passieren, und wie in welcher Geschwindigkeit die Bevölkerung das Ganze wieder ignoriert.
Andererseits hat der Aufstand auch gezeigt, wie schnell ein Kipppunkt erreicht sein kann – und wie wenig öffentliche Unterstützung Putin in so einem Fall hat.
Paul Krisai: Ja, die Meuterei hat gezeigt, wie schnell das System Putin von innen destabilisiert werden kann – aber ausschließlich durch einen Konflikt in den Eliten, nicht durch die Bevölkerung. Andererseits hat das schnelle Ende Prigoschins auch gezeigt, dass solche Dinge in dem Regime nicht geduldet werden, das Signal war eindeutig.
Miriam Beller: Gezeigt hat der Aufstand auch, wie schwer bis unmöglich es ist, Vorhersagen über die russische Politik und Elite zu treffen. Es ist irrsinnig schwer zu sagen, wie stabil das System jetzt wirklich ist.
Sie schreiben, dass Putin mit dem Krieg gegen die Ukraine auch sein eigenes Land zerstört. Auch wenn Prognosen fast unmöglich sind: Gibt es etwas, das Ihnen Hoffnung macht?
Paul Krisai: Die Menschen, die trotz aller Repressionen, trotz der Zensur, trotz des brutalen Machtapparates immer noch ihre Meinung sagen. So wie der Oppositionelle Ilja Jaschin, den nun achteinhalb Jahre im Gefängnis sitzt, weil er über Butscha berichtet hat. Aus der Bevölkerung erwarte ich mir aber keine große Widerstandsbewegung. Ich verlasse Russland mit einer starken Ernüchterung und mit dem Gefühl, dass dieses Land noch einen sehr weiten Weg vor sich hat, bis es wieder an einem friedlichen Zusammenleben in Europa beteiligt sein kann.
Miriam Beller: Ich verlasse Russland auch mit sehr wenig Hoffnung. Ich wünsche mir, dass die Menschen – nicht nur die, die noch öffentlich Widerstand leisten, sondern auch die stillen – ihren Wunsch nach Demokratie konservieren und an ihre Kinder weitergeben können, und das nicht durch die Propaganda, die Gehirnwäsche und auch durch die Auswanderung vollkommen ausgelöscht wird. Dass es in einem System, das einen vom Kindergarten an darauf trimmt, immer zuzustimmen, weiter Widerstandsblasen gibt.
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