"Nur wer Tibet unterstützt, kann für Menschenrechte sein"

Lobsang Sangay und der Dalai Lama
Der Präsident der tibetischen Exilregierung spricht von "kulturellem Genozid" und glaubt an eine neue Protestwelle.

Lobsang Sangay ist zwar Präsident der Exilregierung Tibets, im historischen Gebiet Tibet ist er allerdings noch nie gewesen. Das hätte ihm China bisher „nicht erlaubt“. Der Präsident ist in einem Flüchtlingscamp in Indien aufgewachsen, wie viele seiner Landsleute

Beim Interview mit dem KURIER sitzt er im adretten Anzug im Grand Hotel in Wien – wo ein Zimmer für ihn gebucht wurde. Luxus, den er nicht nötige habe, wie er lächelnd beteuert: „Als ehemaliges Flüchtlingskind ist für mich jeder Platz okay, solange es ein Bett und eine Decke gibt.

"Kultureller Genozid"

Die Tibetische Exilregierung – von keinem einzigen Staat international anerkannt – sitzt seit der Flucht des Dalai Lama, Tendzin Gyatsho, in Indien – in Dharamsala. Anfang der 1950er-Jahre marschierte China in Tibet ein, nahm sich das Land, massakrierte Einheimische, zerstörte Klöster. Zehntausende Tibeter flüchteten seitdem aus dem „Autonomen Gebiet Tibet“ nach Indien, ins Exil. Der Rest ist in China geblieben, viele getrennt von ihren Familien. Etwa drei Millionen Tibeter leben im Autonomen Gebiet.

Die Kommunikation mit den Verwandten sei schwierig, erklärt Sangay. Genauso, wie die Informationsbeschaffung: „Ein Journalist in Peking hat zu mir gesagt, dass es für ihn einfacher sei, nach Nordkorea zu reisen, als nach Tibet.“

Sangay vertritt die Ansicht, dass seit 70 Jahren ein „kultureller Genozid“ an den Tibetern begangen werde, der bis heute andauere: „Tibet war ein unabhängiges Land. Es wurde von China okkupiert und ist zu einer militarisierten Zone umgebaut worden.“

Das betrifft vor allem die etwa 2.800 Kilometer lange Grenze. Fünf große Militärstützpunkt mit modernsten Kampfjets, Interkontinentalraketen, Soldaten: Tibet hat für China strategische Bedeutung – in mehrerlei Hinsicht. Das Gebiet verfügt über die weltweit drittgrößten Eisreserven, versorgt rund 1,5 Milliarden Asiaten mit Wasser.

"Nur wer Tibet unterstützt, kann für Menschenrechte sein"

Der Mount Everest in Tibet

"Wie viele Menschen wissen das schon?"

Sangay ist seit 2011 Ministerpräsident der Exilregierung. Er hat das Amt von seinem Vorgänger Lobsang Tendzin übernommen. Der wiederum hatte seinen Posten der Tatsache zu verdanken, dass der Dalai Lama sich 2001 als spirituelles, buddhistisches Oberhaupt zurückgezogen hatte. 2011 gab er seine gesamte politische Macht ab. Derzeit wird diskutiert, wann und in welcher Form der mittlerweile 84-jährige Dalai Lama wiedergeboren werden könnte – und ob das für die politische Zukunft Tibets sinnvoll wäre.

Lobsang Sangay glaubt jedenfalls an die Stärke seines Volkes. Massenproteste in Tibet, wie im Jahr 2008, seien wieder möglich: „Auch wenn manche glauben, dass die Tibeter die Hoffnung aufgegeben haben: Es ist schon einmal passiert, es wird wieder passieren.“ Alles was man fordere sei Autonomie – innerhalb der chinesischen Verfassung. „Wir wollen weit weniger als Hongkong.“

Insgesamt ist Sangay aber pessimistisch. Es sei das ultimative Ziel Chinas, aus Tibet endgültig eine chinesische Provinz zu machen. Die Schreie seiner tibetischen „Landsleute“ in China werden kaum wahrgenommen: „154 Tibeter haben sich seit 2009 aus Protest angezündet. Wie viele Menschen wissen das schon?“ Die Situation sei vergleichbar mit jener der Uiguren – einer muslimischen Minderheit in China, in der Nachbarprovinz Xinjiang. 1,8 Millionen Uiguren waren oder sollen aktuell in Internierungslagern eingesperrt sein.

Den Exil-Tibetern gehe es derweil gut. Eigene Schulen, Klöster und Krankenhäuser: „Indien macht am meisten für uns“, sagt Sangay, der den Rest der Welt in die Pflicht nimmt: „Tibet ist der Test. Nur wer Tibet unterstützt, kann für Menschenrechte sein. Wer Tibet nicht unterstützt, kann nicht für Menschenrechte sein.“

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