Kiew und Moskau beschuldigen sich gegenseitig, die Anlage gesprengt zu haben. Auffallend war, dass der ukrainische Präsident Selenskij umgehend die russische Seite dafür verantwortlich machte – Kiew hatte schon in der Vergangenheit die Befürchtung geäußert, Moskau könnte den Staudamm sprengen. Die russischen Besatzungsbehörden hingegen leugneten anfangs, dass überhaupt etwas passiert sei. Später hieß es , ukrainische Saboteure seien für den Zusammenbruch verantwortlich – die Rede war von einer „False Flag“-Operation. Eine dritte Option ist, dass der Damm, der schon in der Vergangenheit schwer beschädigt worden ist, schlicht zusammengebrochen ist.
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- Welcher Hintergrund ist am wahrscheinlichsten?
Für Oberst Markus Reisner vom Österreichischen Bundesheer ist eine russische Attacke am einleuchtendsten. "In Anbetracht der Offensive der Ukraine, die auch begonnen zu haben scheint, dürften eher die Russen dafür verantwortlich sein." Am Montag waren Gerüchte im Umlauf gewesen, dass die Ukraine amphibische Anlandungen südlich von Cherson durchgeführt hat. „Das hat die Russen möglicherweise dazu bewogen, den Damm zu zerstören, um eine Flut auszulösen und so jede Anordnung im Süden unmöglich zu machen.“ Plausibel erscheint auch, dass die Russen einfach darauf gewartet haben, dass der Damm von selbst bricht: Die Besatzer ließen in den vergangenen Wochen das Wasser im Reservoir auf ein Rekordlevel steigen. Das wäre laut Genfer Konvention ebenso wie eine Sprengung ein Kriegsverbrechen.
- Wer hätte mehr von einer Sprengung?
Das ist das Seltsame: Die Zerstörung schadet beiden Seiten. Für die Ukraine wird es deutlich schwieriger, ihre Offensive über den Dnipro fortzusetzen. Zwar werde das Gros des Vorstoßes ostwärts von Saporischschja erfolgen, sagt Reisner, also nicht nahe des Stausees. Aber vermutlich geplante Ablenkungsmanöver nahe Nowa Kachowka seien nun nahezu ausgeschlossen.
Doch auch für die Russen hat die Zerstörung des Damms einen großen Nachteil. Der Wasserzufluss auf die Krim verringert sich massiv. Vom Stausee führt der Nord-Krim-Kanal weg, der die russisch besetzte Halbinsel mit Trink- und Brauchwasser versorgt; der Durchfluss hat sich massiv verringert. Problematisch dürfte das in erster Linie nicht für die Trinkwasserversorgung, sondern für die Landwirtschaft sein. Russland-Experte Sergej Sumlenny sieht darin sogar einen Hinweis darauf, dass die Russen sogar bereit wären, die Krim zu opfern, nur um der Ukraine massiven Schaden zuzufügen.
- Ist auch das nahe gelegene AKW von der Überflutung betroffen? Kann das Auswirkungen bis zu uns haben?
Das Kernkraftwerk Saporischschja – das größte in Europa – steht zwar weiter stromaufwärts, aber Wasser aus dem Kachowka-Stausee ist nötig, damit die Anlage Strom für Turbinenkondensatoren und Sicherheitssysteme erhält. Eine Eskalation dort steht schon länger zu befürchten, da das AKW unter russischer Kontrolle ist; es wird immer wieder als Druckmittel eingesetzt. Derzeit sei die Lage laut der ukrainischen Atomenergiebehörde Energoatom aber unter Kontrolle. Auch die in Wien ansässige Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) sagt, es bestehe derzeit keine Gefahr einer nuklearen Katastrophe.
- Und welcher Schaden entsteht für die Umwelt?
Massiver. Mindestens 150 Tonnen Maschinenöl sind bereits in Dnipro gelangt, weitere 300 drohen auszulaufen drohen. Die Ukraine wird langfristig mit den ökologischen Folgen zu kämpfen haben, denn ganze Inseln im Delta wurden vernichtet.
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