Nordirland: Brexit-Ängste im „Banditenland“
Das Schlimmste waren die Momente der Stille. Die IRA hatte eine Granate mit blechernem Krachen aus ihren zusammengebastelten Granatwerfern abgefeuert – und niemand wusste, wo sie ein paar Sekunden später einschlagen würde.
Wenn Pat Toner heute, 40 Jahre später, von diesen Nächten erzählt, wird der Schrecken wieder greifbar. Die Erinnerungen sind geblieben, alles andere aus dieser Zeit der „troubles“ – so nennt man in Nordirland die Jahre des Bürgerkrieges – ist längst aus Forkhill verschwunden. Vor allem die große Basis der britischen Armee, die hier Ende der 1960er Stellung bezog und das Dorf an der Grenze zu einer Hauptkampfzone für Terrorangriffe machte.
Die Soldaten und ihre Baracken wurden Ziele für die Terroristen der IRA, die hier im Süden Nordirlands ihre Verstecke hatten.
Granaten, Sprengfallen, Feuerüberfälle auf die Soldaten, aber auch auf die örtlichen Pubs und Geschäfte, wenn sie jemandem von der anderen Seite, also den pro-britischen Protestanten gehörten: Das war der Alltag damals, das sind heute die Geschichten, von denen jeder eine zu erzählen hat in diesen Dörfern an der Grenze.
„Katastrophe“
Die Soldaten sind verschwunden, in den Pubs deutet man heute nur noch auf die Stellen, wo einst die ganze Wand weggesprengt wurde, wo draußen vor der Tür geschossen und gestorben wurde. Die Grenze zur Republik Irland, die gleich hinter den Häusern verläuft, ist heute unsichtbar.
Dass diese Grenze nach dem Brexit wieder errichtet werden soll, ist nicht nur für den 75-jährigen Pat schlicht „eine Katastrophe“.
Grenzposten, tägliche Kontrollen, Autoschlangen: Die Älteren in Nordirland haben das viel zu lange erlebt, um sich damit abfinden zu können.
„Dass die in London keine Ahnung hatten, wie das nach dem Brexit funktionieren soll, das wissen wir ja jetzt“, scherzt Pat gallig, „aber das Schlimmste ist, dass sie über Nordirland nicht einmal nachgedacht haben, weil es ihnen egal war.“
Kein Spur der Grenze
Wie viel Hass und Wut auf diese Grenze in vielen Menschen steckte, merkt man auch daran, wie rückstandslos sie entfernt wurde.
Wer sich heute auf die Suche begibt, in all den Orten in der Provinz Armagh, die direkt an der Grenze liegen, von ihr manchmal durchschnitten werden, muss sich durchfragen. Grenzbalken, Grenzposten, all das gibt es nicht mehr, seit auf der einen wie auf der anderen Seite EU-Gebiet ist.
Nicht einmal ein Strich oder eine Tafel markiert die Stellen. „Sie müssen einfach schauen, wann das erste Verkehrsschild mit Entfernungen in Kilometern auftaucht“, versucht die örtliche Greislerin in Jonesborough bei der Grenzsuche behilflich zu sein, „wenn Sie das sehen, sind Sie drüben in Irland.“
Irland Reportage
Kilometer versus Meilen
Hier Meilenangaben, dort Kilometer, hier das britische Pfund, dort der Euro, das sind im Alltag in diesem heute so friedlichen Hügelland so ziemlich die wichtigsten Unterschiede zwischen den beiden EU-Staaten.
Nordirische Bauern verkaufen ihre Ware gerne auch im Süden, wenn der Preis dort besser ist. „Ich geb’s ja zu, ich hab nicht nur mit dem Herzen gegen den verdammten Brexit gestimmt“, gesteht der Rinderzüchter Larry ein, „sondern auch mit der Geldbörse.“
Die EU-Förderungen hätten gerade in Nordirland den vielen Kleinbauern über die Runden geholfen. Dass London nach dem EU-Austritt genauso viel Unterstützung geben wird, glaubt er nicht. Das komme doch in deren verrückten Überlegungen gar nicht vor.
In diesem Grenzland war man immer schon daran gewohnt, von den Behörden in irgendwelchen Hauptstädten leicht übersehen zu werden. Und das machte die Gegend nicht nur als Bastion für die IRA interessant, sondern auch für viele andere Unternehmungen abseits der geltenden Gesetze.
„Banditenland“ nennt man die Provinz auch, und das hat weniger mit dem Bürgerkrieg zu tun als mit einträglichen Geschäften, mit denen sich nicht nur die Terroristen finanzierten, sondern auch viele Bauern.
Irland Reportage 2
Schweine schmuggeln
„Miss Piggy“ sei ihr Spitzname gewesen, erzählt eine ältere Dame lachend beim Tee. Das habe bitte nichts mit ihrem Aussehen zu tun, sondern damit, dass sie vom Schmuggeln von Schweinen gelebt hat.
Woche für Woche sei sie mit einem Anhänger voll mit Tieren auf einem Feldweg über die Grenze nach Nordirland gerollt. Genauer gesagt über einen der unzähligen Feldwege, die durch die Hügel ins Nachbarland führen: Offiziell gesperrt und daher meist unbewacht.
Wenn dann plötzlich doch die Armee oder die Grenzpolizei vor ihr gestanden sei, „dann musste man nur schnell wissen, was jetzt das Beste war: Lächeln, Lügen oder eine kleine Spende für einen der Beamten“.
„Miss Piggys“ Schweine waren nicht die einzige grenzüberschreitende Handelsware hier. „Alles ist geschmuggelt worden“, erinnert sich Bauer Larry: Zigaretten in die eine, Whiskey in die andere Richtung, Fleisch, Schuhe und natürlich Waffen.
Trennung in den Köpfen
Die Grenze hier war auch in den Bürgerkriegsjahren löchrig, einfach weil jeder Einheimische immer einen Pfad mehr kannte als die Behörden auf beiden Seiten.
Wirklich schließen, das ist die diskret gehandhabte Wahrheit in diesem Grenzland, werde man sie auch nach dem Brexit nicht können. Die große Angst ist, dass sich die Trennung auch wieder in den Köpfen festsetzen könnte.
Denn die hat – 20 Jahre nach Ende des Bürgerkrieges – erst langsam begonnen, aus diesen Köpfen zu verschwinden. In Nordirland leben Katholiken und Protestanten heute weitgehend friedlich mit- oder zumindest nebeneinander.
Hass
Heute werde ein Protestant aus dem katholischen Pub nicht mehr rausgeworfen wie einst, gibt man sich an der Bar versöhnlich, „aber meistens verirrt er sich erst gar nicht hierher“.
Terror und Bürgerkrieg, das werde auch mit der Grenze wohl nicht wiederkommen. Dafür aber wahrscheinlich viel von dem Hass, der heute noch in den Menschen steckt.
„Aber das kannst du nur verstehen“, resigniert Pat, „wenn du hier gelebt hast: Damals, als die Jugendlichen aus dem Dorf von der katholischen Pfarrjugend direkt zu den Terroristen der IRA wechselten. Da sind viele Rechnungen bis heute offen.“
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