Nicaraguas Power-Duo pfeift auf Revolutionsideale
Der Platz vor der Kathedrale in der nicaraguanischen Provinzstadt Estelí ist fein herausgeputzt. Kinder toben sich an den Spielgeräten aus. Und ganz viele junge Menschen starren an dem strahlend blauen Tag auf ihr Handy-Display. Auch die Gruppe um José. Jeden Tag kommt sie hierher – mit nur einem Ziel: Sich für einige Stunden ins öffentliche Gratis-WLAN zu hängen.
"Das ist echt cool, so habe ich einen Blick in die Welt", zeigt sich der 17-Jährige, der Architekt werden will, erfreut. Er weiß aber auch um die Zweischneidigkeit dieser Art des digitalen Genusses. Denn vor dem Surfen kommt die Registrierung, automatisch wird man auf die Homepage der sandinistischen Jugend weitergeleitet, auf der man seine Daten preisgeben muss und so einer möglichen Überwachung Tür und Tor öffnet. José zuckt mit den Achseln: Will er ins World Wide Web eintauchen, hat er keine andere Wahl.
"Brot und Spiele"
Überall ließ die Regierung unter Präsident Daniel Ortega auf öffentlichen Plätzen Gratis-WLAN ausbauen. Parks wurden verschönert, Menschen auf dem Land erhielten Blechdächer, Lebensmittelrationen oder auch Schweine und Hühner. "Brot und Spiele" nennen Kritiker des Staatschefs diese Strategie, um den autoritären Führungsstil seiner Clique zu verschleiern.
Es ist vor allem Ortegas Ehefrau Rosario Murillo, die diesen Wohlfühlfaktor in Nicaragua forciert und schon lange bevor sie 2016 Vize-Präsidentin wurde die politischen Zügel des Landes fest im Griff hatte. So ließ sie die Hauptstadt Managua regelrecht zupflastern mit rund zehn Meter hohen stählernen "Lebensbäumen". Kosten pro Stück: rund 25.000 Dollar, dabei zählt Nicaragua zu den ärmsten Ländern Lateinamerikas. Zumindest jeder dritte der mehr als sechs Millionen Einwohner, von denen 25 Prozent das Land verlassen haben (siehe unten), lebt in Armut.
Auch in ihren täglichen Radio-Ansprachen (morgens, mittags, abends zu je zehn Minuten!) versucht sich die 66-Jährige als Mutter der Nation zu etablieren – mit einer Mischung aus Lobeshymnen auf die Heroen-Taten ihres Mannes, christlich-fundamentalistischer Rhetorik, Esoterik und ganz praktischen Lebenstipps.
Strenges Regime
Hinter den Kulissen freilich führt Rosario Murillo ein strenges Regime. So müssen alle Bürgermeister des Landes jede Woche zu ihr zur Befehlsausgabe. Wer nicht spurt, fliegt. Sie feuerte auch eine Stadträtin, nur weil diese auf einem Foto mit der US-Botschafterin zu sehen war. Jede noch so kleine Verlautbarung der Ministerien muss vor Veröffentlichung über den Schreibtisch der Vize-Präsidentin, die als regelrechtes Arbeitstier (täglich nur drei Stunden Schlaf) bekannt ist.
Die Opposition räumt das Präsidenten-Paar aus dem Weg oder kauft sie. Freie Medien gibt es kaum noch. Mit dem Großunternehmertum und der Kirche gingen die ehemaligen marxistischen Guerrilleros eine Allianz ein. Und um das ganze Konstrukt abzusichern, wurden die sieben gemeinsamen Kinder auf maßgebliche Posten gehievt.
"Ortega hat die Ideale der Revolution, für die so viele Menschen gestorben sind, verraten", wettert die ehemalige Kampfgenossin Dora Maria Tellez im Gespräch mit österreichischen Journalisten. Er führe das Land schon fast wie der berüchtigt-brutale Somoza-Clan einst, den die Sandinistin – früherer Deckname "Comandante dos" – gemeinsam mit ihren Mitstreitern 1979 außer Landes jagen konnte. Jetzt bekämpft sie das System Ortega – mit demokratischen Mitteln. Ihr Credo: "Auch ein linker Diktator ist ein Diktator." Und dessen vermutliche Nachfolgerin – angeblich ist der Präsident todkrank – scharrt bereits in den Startlöchern: Ehefrau Rosario Murillo.
Flaniermeile am See
Im hippen "Salvador Allende"-Park, idyllisch gelegen am Managuasee, ist die große Politik kein Thema. Einst als miese Gegend mit dreckigen Buden verschrien, reiht sich heute ein feiner Gastro-Betrieb an den nächsten. Außerhalb des umzäunten Areals leuchten abends die "Lebensbäume", innerhalb die bunten Lampen der Lokale. Eine Idylle, in der man sich verlieren oder in die virtuelle Welt abdriften kann – durch eines der vielen, vielen WLAN-Angebote.
Damals, vor sechs Jahren, als ihr Mann den Job verlor, war das Paar ganz knapp daran, jenen Weg zu wählen, den so viele Nicaraguaner gehen: Ab ins Ausland als Arbeitsmigranten, konkret ins Nachbarland Costa Rica.
„Doch nur ich hätte als Haushaltshilfe eine Anstellung gehabt. Und ich konnte die damals noch kleinen Kinder nicht alleinelassen“, sagt Elba Castellon, 33, heute. Außerdem hatte sie die tristen Erzählungen ihrer Schwester im Ohr. „Die ist immer noch dort, schon seit acht Jahren. Nichts als harte Arbeit, und ihr Kind hat sie seit damals nie mehr gesehen.“
Costa Rica, die „Schweiz“ Zentralamerikas, ist neben den USA das Zielgebiet der Nicaraguaner. Die Sprache ist dieselbe (Spanisch), und sie kommen – zunächst – ganz legal mit einem Touristenvisum für drei Monate dorthin. „Täglich beantragen zwischen 500 und 600 im Konsulat in Managua die nötigen Papiere um umgerechnet 38 US-Dollar“, sagt die Migrationsexpertin Martha Isabel Cranshaw (siehe Bild) zu österreichischen Journalisten. Um die Menschenmassen zu bewältigen, wurde die Straße vor dem Gebäude für den öffentlichen Verkehr komplett gesperrt.
Rücküberweisungen
An die 600.000 Nicaraguaner befinden sich nach Schätzungen in Costa Rica – sie blieben einfach auch nach Ablauf der Frist. Ebenso viele schlugen sich illegal in die USA durch. Der Rest der bis zu 1,5 Millionen nicaraguanischen Migranten – ein Viertel der Bevölkerung – findet sich vor allem in Panama und in Spanien.
Und der Trend scheint sich ungebremst fortzusetzen: Laut einer Umfrage würde mehr als die Hälfte auswandern, wenn sie die Möglichkeit dazu hätte.
Von den Rücküberweisungen in die Heimat leben nicht nur ganze Familien, auch der Staat profitiert davon. „Heuer dürfte sich die Summe auf 1,3 Milliarden Dollar erhöhen. Das ist ein Plus von elf Prozent im Vergleich zum Vorjahr und entspricht mehr als zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts“, betont Cranshaw von der Nichtregierungsorganisation „Red Nica Migrantes“ .
Für Elba Castellon und ihren Gatten ist dieses Thema aber ein für alle Mal erledigt. Die Mutter hat seit vier Jahren einen Job in Managua als Kindermädchen, ihr Mann kümmert sich um den eigenen Nachwuchs im Alter von acht, 14 und 17 Jahren: „Wir bleiben, das ist fix.“
Sturz der Somoza-Diktatur
Nach langjährigem Kampf stürzen die marxistischen Rebellen 1979 die Diktatur des Somoza-Clans. Daniel Ortega ist eine Zentralfigur der Revolution und wird Mitglied der Regierungsjunta, von 1985 bis 1990 ist er Staatspräsident Nicaraguas.
Nach Revolutions-Jahrzehnt
Geschwächt durch massive US-Wirtschaftssanktionen und die von Washington unterstützten Contra-Rebellen verlieren die Sandinisten 1990 die Macht. Es folgt eine Privatisierungswelle, weite Teil der sandinistischen Reformen werden zurückgenommen.
Daniel Ortega scheitert auch bei den darauffolgenden Wahlen.
Das Comeback Daniel Ortegas
2006 kehrt der Ex-Guerrillero Daniel Ortega als gewählter Staatspräsident zurück an die Macht. Seither führt er das Land gemeinsam mit seiner Ehefrau Rosario Murillo autoritär.
Bei den Wahlen 2016 holt er mit ihr als Vize-Präsidentschaftskandidatin mehr als 70 Prozent der Wählerstimmen. Laut Opposition machen aber nur 30 Prozent von ihrem Wahlrecht Gebrauch.
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