Das Schlimmste seien die angsterfüllten Blicke der Patienten, wenn ein Bettnachbar plötzlich zu wenig Sauerstoff im Blut habe und um Luft zu ringen beginne, sagt Chahat Verma, eine junge indische Ärztin. „Die Patienten wissen, dass wir ihm nicht helfen können, weil wir keinen Sauerstoff haben. Und sie wissen, sie könnten die Nächsten sein.“
Verma arbeitet nicht in einem kleinen Provinzspital, sondern in einem renommierten Krankenhaus in Indiens Hauptstadt Neu Delhi. Ihr Bericht im britischen Guardian ist kein Einzelfall, er deckt sich mit Schilderungen von Medizinern aus dem ganzen Land: Sie erzählen, wie sie Menschen auf der Straße sterben lassen müssen, weil es keine freien Betten mehr gibt, wie sie Angehörige losschicken, um Sauerstoff und Medikamente auf dem Schwarzmarkt aufzutreiben. Und wie sie wegen Personalmangels – immer mehr Ärzte und Pfleger stecken sich mit Covid-19 an – Dutzende Patienten allein versorgen.
„Viele sterben nicht wegen Corona, sondern weil sie keine Behandlung erhalten. Nennt man das Tod – oder Mord“, fragt der Mitarbeiter eines Krematoriums in einem dpa-Artikel.
Geschönte Statistiken?
Knapp 20 Millionen bestätigte Covid-19-Fälle gab es Stand Montag seit Beginn der Pandemie in Indien. Kamen das Land und seine 1,3 Milliarden Einwohner 2020 auch dank eines äußerst harten Lockdowns glimpflich durch die erste indische Coronawelle, begannen die Zahlen vor wenigen Wochen massiv zu steigen. Seit 13 Tagen gibt es täglich mehr als 300.000 Neuinfektionen und über 3.000 Tote, offiziell.
Angesichts des kollabierenden Gesundheitssystems, unzureichender Testzahl und der Tag und Nacht brennenden Scheiterhaufen gehen Beobachter davon aus, dass die wahren Zahlen weit über den gemeldeten liegen – die der Neuinfektionen um bis zu 30-mal, wie der Spiegel schätzt. Allein in Delhi sei derzeit jeder dritte abgegebene Coronatest positiv.
Und während sich das Gesundheitsministerium zuletzt rühmte, dass Indien die weltweit niedrigste Covid-Sterberate habe, berichteten Medien von geschönten Statistiken. Krematorien würden teils doppelt so viele Corona-Tote verbrennen wie offiziell bekannt gegeben, hieß es.
Versäumnisse der Regierung
Premierminister Narendra Modi hatte die Pandemie angesichts niedriger Neuinfektionsraten im Jänner voreilig für beendet erklärt. Mit Blick auf wichtige Wahlen in mehreren Bundesstaaten und auf die ächzende Wirtschaft promotete er Sportevents, Großveranstaltungen und ein mehrwöchiges hinduistisches Fest mit Millionen Besuchern.
Auch große Teile der Bevölkerung glaubten, man habe die Krise überstanden. Die Bereitschaft, sich an Schutzmaßnahmen zu halten und Maske zu tragen, sank deutlich. In Kombination mit dem Irrglauben, die Menschen seien durch die anderen auf dem Subkontinent grassierenden Krankheiten abgehärtet, und der im Jänner aufgetauchten Virusmutation war es nur eine Frage der Zeit, bis die Zahlen durch die Decke gingen.
Die zweite indische Corona-Welle trifft auf eine kaum immunisierte Bevölkerung. Knapp zehn Prozent der Inder haben eine erste Dosis erhalten, zwei Prozent sind voll immunisiert. Die Regierung hatte auf das natürliche Entstehen einer Herdenimmunität gehofft und rein auf Vakzine aus indischer Produktion gesetzt. So wird zum Beispiel das Mittel von Astra Zeneca im Land erzeugt. Große Teile der erzeugten Impfstoffe gingen in den Export.
Afrika bangt um Vakzine
Ein neuer landesweiter Lockdown ist derzeit nicht geplant, das Thema wird zunächst den einzelnen Bundesstaaten überlassen. Beim Impfen soll aber überall Tempo gemacht werden.
Um so bald wie möglich alle über 18-Jährigen immunisieren zu können, werden nun auch ausländische Impfstoffe eingesetzt, darunter das russische Sputnik V. Zudem wurde der Export von Vakzinen stark begrenzt, was weltweite Folgen hat. Bisher gingen die Impfstoffe vor allem an ärmere Staaten in Afrika, die nun leer ausgehen – was neuen Mutationen Raum geben könnte.
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