Nein zum Brexit-Deal bietet auch Chancen
Eine Saga sei der Brexit, sagt Christian Kesberg, Österreichs Wirtschaftsdelegierter in London. Eine Saga, die Europa noch lange beschäftigen wird.
Ein harter Brexit, ein zweites Referendum, ein Last-Minute-Abkommen mit Brüssel vor dem Austrittstermin am 29. März – oder eine Verschiebung desselben: im Scheidungsprozess Großbritanniens von der EU ist mit dem deutlichen Nein des britischen Unterhauses zum Austrittsdeal von Premierministerin Theresa May wieder alles möglich.
„Die Ablehnung des Abkommens heißt nicht zwangsläufig, dass man auf einen Hard Brexit zusteuert“, analysiert Kesberg gegenüber dem KURIER. Ein harter Ausstieg ohne jedes Abkommen mit der EU sei lediglich das einzige Szenario, das von allein Wirklichkeit werde, wenn es nicht doch noch eine Einigung gibt.
"Exit vom Brexit"
Nach Kesbergs Einschätzung hat dabei das Abstimmungsdebakel für May neue Diskussionsmöglichkeiten eröffnet. „Damit sind ein weicher Brexit oder ein ,Exit vom Brexit‘ via Referendum wahrscheinlicher geworden", was jedenfalls erst einmal eine Verschiebung des Austrittsdatums mit sich bringen würde.
Die EU habe zwar mitgeteilt, man werde das abgelehnte Abkommen nicht neu verhandeln, würde dem Vorschlag einer permanenten Zollunion oder einer engen Anbindung nach dem Vorbild Norwegens aber zustimmen.
Gottfried Schellmann, auf internationales Steuerrecht spezialisierter Steuerberater, glaubt dagegen an einen harten Brexit. Die Wahrscheinlichkeit dafür liege bei 2:1.
„Theresa May hat keinen Spielraum“, sagte Schellmann in der Sendung „Warum eigentlich“ auf schauTV. „Die EU hat gesagt, sie ändert nichts“.
Solange London nicht aus dem sogenannten Backstop aussteigen könne, wonach das britische Nordirland Teil der Zollunion bleiben soll, laufe alles auf einen EU-Austritt ohne Vertrag hinaus.
Ein harter Brexit hätte große Auswirkungen auf Wirtschaft, Personen- und Warenverkehr und die Finanzbranche. Von einem Tag auf den anderen gäbe es Grenzkontrollen. Vor dem Hafen im britischen Dover könnten Zollformalitäten bis zu 27 Kilometer lange LKW-Staus verursachen – weshalb die britische Regierung bereits Fährkapazitäten in anderen Häfen gechartert hat.
Lieferengpässe
Folge der logistischen Probleme könnten Lieferengpässe etwa bei Medikamenten oder bestimmten Lebensmittel sowie Produktionsverzögerungen sein. Besonders betroffen wäre die Autoindustrie, da Bauteile derzeit „just in time“, also kurz vor dem Einbau, vom Kontinent auf die britischen Inseln geliefert werden.
Erhebliche Probleme drohen auch im Flugverkehr, Lizenzen müssen neu vergeben werden. Notfallmaßnahmen sollen sicherstellen, dass zumindest die wichtigsten Flüge aufrecht erhalten bleiben können.
Zittern müssen auch EU-Bürger in Großbritannien und Briten in der EU, ihr Status ist nach wie vor ungeklärt, auch wenn sie dank aktuellen Regelungen wahrscheinlich in ihren Gastländern bleiben dürfen. Für Reisende aus Großbritannien erwägt die EU die Möglichkeit eines visafreien Aufenthaltes für drei Monate – aber nur, wenn London diesen auch gewährt.
Nicht zuletzt würden der EU bei einem „Hard Brexit“ Milliardenbeträge entgehen, die Großbritannien in der bei einem weichen Brexit vorgesehenen Übergangsphase zahlen würde.
"Kirche im Dorf lassen"
Österreichs in Großbritannien tätige Unternehmen haben sich in den zweieinhalb Jahren seit dem Brexit-Referendum laut Kesberg gut auf den „Worst Case“ vorbereitet. „Der Brexit ist sicher unerfreulich und ein Verlustgeschäft für alle, aber man muss die Kirche im Dorf lassen“ – auch was die erwarteten Wirtschaftseinbußen betreffe, die Großbritannien bevorstehen.
Was ihm mehr Sorgen bereite als die Wirtschaft, seien die Auswirkungen des Brexit auf das Europäische Projekt, so Kesberg, sowie auf die sicherheitspolitische Balance in Europa. „Die größten Gewinner des Brexit sind der britische und der belgische Zoll und der Herr Putin.“
Auch für Schellmann wäre ein harter Brexit keine Katastrophe. Verzögerungen beim Warenverkehr beispielsweise ließen sich durch spezielle Transportverfahren im Zollrecht vermeiden, beim Personenverkehr sei das schwieriger, aber da müssten die EU-Staaten „liefern“. Wie überhaupt die Abwendung der Briten von der EU vor allem mit dem zu starken Hineinregieren der Europäischen Union in die britische Souveränität zu tun habe, etwa bei der Bankenunion. An ein zweites Referendum über den Brexit glaubt Schellmann nicht.
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