SPD: Nahles und die Fesseln der Vergangenheit

Andrea Nahles stand zuletzt unter Beschuss, versucht den Befreiungsschlag mit neuem Konzept  
Weg mit Hartz IV, raus aus der GroKo? Parteichefin Andrea Nahles ringt um die Zukunft der SPD und um ihre eigene.

Gute Laune bei der SPD? Ja, kein Scherz. In den oberen Stockwerken des Willy-Brandt-Hauses in Berlin-Kreuzberg wurde es gestern laut, Gelächter, Stimmengewirr – als gäbe es etwas zu feiern. In diesen Tenor stimmte auch Parteichefin Andrea Nahles ein, als sie am Sonntagabend vors Mikro trat: "Sie sehen hier eine gut gelaunte und positiv gestimmte Parteivorsitzende stehen", so Nahles, die es bisher wenig lustig hatte: Der mühsame Weg in die Große Koalition, die Wahlniederlagen in Bayern und Hessen sowie Umfrage-Werte zwischen 15 und 17 Prozent.

Zuletzt schossen sich ihre Vorgänger auf öffentlicher Bühne auf sie ein: Altkanzler Gerhard Schröder sprach ihr im Spiegel-Interview die Kompetenz fürs Kanzleramt ab, es fehlten ihr ökonomische Kenntnisse ("Ich glaube, das würde nicht mal sie selbst von sich behaupten"). Nebenbei wünschte er sich Sigmar Gabriel zurück. Der Ex-Vorsitzende und Intimfeind von Nahles riet seiner Partei via Spiegel, sie müsse ein Ende der Großen Koalition ernsthaft in Erwägung ziehen. Gabriel, selbst einst Befürworter des Bündnisses, der im Oktober noch vor einem "kopflosen Davonrennen" gewarnt hatte, traf damit einen Nerv, vor allem bei Parteilinken. Nicht nur das Ende der Koalition war plötzlich wieder Thema, auch Gabriels mögliches Comeback.

Schicksalswahlen

Und das kurz vor der gestrigen Klausur, die Nahles als Chance für die Neuausrichtung der Partei nutzen wollte – mit Blick auf die anstehenden Wahlen, die auch über ihre Zukunft entscheiden könnten: In knapp zwei Monaten ist Europawahl, am selben Tag wählt Bremen, seit 70 Jahren eine rote Hochburg. Im Herbst folgen Sachsen, Thüringen und Brandenburg, wo die Sozialdemokraten zwar mitregieren, aber einen schweren Stand haben. Auf bisher Erreichtes kann sie sich nicht berufen, das hat bei Wahlen noch nie genützt.

Nun muss es ein großer Wurf sein, der das Profil der Sozialdemokaten wieder schärfer stellt - und den verkündete Nahles am Sonntagabend: Die SPD will mit einem neuen Konzept den Sozialstaat umkrempeln und sich von alten Fesseln aus der Ära Schröder (1998–2005) lösen – Stichwort Hartz IV. Die Reform, die zwar die Arbeitslosenzahl in Deutschland sinken ließ, aber viele Menschen in Minijobs brachte, den Niedriglohnsektor antrieb, gilt für viele Genossen als "Verrat an den eigenen Leuten". Das soll sich nun ändern. "Wir wollen Partner der Menschen sein", sagte Andrea Nahles am Sonntag. Statt "Hartz" soll es nun "Bürgergeld" heißen, das keine "überflüssigen Sanktionen" beinhaltet. Und: "Wer lange einbezahlt hat in die Arbeitslosenversicherung, soll auch länger Arbeitslosengeld beziehen können", erklärte die SPD-Chefin. Auf den 17 Seiten des Konzepts stehen unter anderem auch die Anhebung des Mindestlohns von neun auf zwölf Euro pro Stunde, eine Kindergrundsicherung sowie gesetzlichen Anspruch auf Homeoffice und Weiterbildung.

Herzstück ist aber eine Grundrente, die für Geringverdiener aufgestockt werden soll. Intern kamen die Vorschläge gut an, das Papier wurde gestern einstimmig vom Vorstand verabschiedet. Finanzminister Olaf Scholz aus dem konservativen Eck der SPD stimmte dafür, ebenso Juso-Chef Kevin Kühnert. Selbst der Experte von der Seitenlinie, Sigmar Gabriel, der zuvor öffentlich gewarnt hatte, die Partei dürfe sich nicht auf das Thema Soziales reduzieren, lobte vor Tagen die Grundrente. Vor zwei Jahren hätte das Sozialministerium mit dem Kanzleramt die Grundrente verhindert, schreibt Gabriel via Twitter, was als Seitenhieb zu verstehen ist – denn die damals zuständige Ministerin hieß Andrea Nahles.

Gerüchte um Ablöse

Wie lange die Parteivorsitzende noch so heißt? Der Zustand der SPD lässt derzeit allerlei Gerüchte blühen: Die Bild-Zeitung wollte gar von einem Putschplan der ehemaligen Kontrahenten Sigmar Gabriel und Martin Schulz wissen. Spekulationen, dass Nahles abgelöst wird, sollte die SPD bei der EU-Wahl und in Bremen schlecht abschneiden, entkräftete Parteikollegin Manuela Schwesig jüngst im Tagesspiegel. Die Ministerpräsidentin aus Mecklenburg-Vorpommern wird, wie ihr niedersächsicher Amtskollege Stephan Weil, oft als Alternative zu Nahles genannt, will davon aber nichts wissen ("Nahles bleibt Parteivorsitzende"). Klar, im aktuellen Stimmungstief stünden alle vor denselben Problemen wie die amtierende Vorsitzende. Der von vielen erhoffte inhaltliche Erneuerungsprozess lässt sich in einem Bündnis mit CDU/CSU nicht so einfach umsetzen.

Befreiungsschlag?

Das wird sich auch bei den jüngsten Plänen zeigen. Denn was die Sozialdemokraten nun nach vorne bringen soll, könnte die Koalition ins Wanken bringen. CDU-Vize Volker Bouffier warf der SPD vor, "zweigleisig zu fahren". Sie könne nicht Verantwortung in der Bundesregierung übernehmen "und zugleich täglich Vorschläge machen, die in dieser Koalition nicht zu machen sind". Allerdings sind viele Punkte aus dem Konzept  ohnehin vorerst nur Standpunkte der SPD, räumte Andrea Nahles ein. Nur die Grundrente steht im Koalitionsvertrag, ohne Kompromiss wird sie aber nicht zustandekommen. Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) fordert etwa eine Bedürftigkeitsprüfung bei den Beziehern.

Einfach wird es also nicht, auch weil die Unionsparteien unter neuer Führung sind. Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) und Markus Söder (CSU) wollen das Profil ihrer Parteien ebenfalls schärfen. Und wie Nahles sitzt keiner von beiden im Regierungskabinett. Die neuen Verhältnisse erhöhen den Abstimmungsbedarf, sagt CDU-Mann Jens Spahn. In der Wählerschaft wachse das Bedürfnis nach mehr Profil: "Ob uns die Balance gelingt zwischen gut regieren und Parteien unterscheidbar zu halten, wird sich zeigen."

Womit wir wieder bei der SPD wären, die gestern fast verdächtig gute Laune hatte. Vielleicht, weil sich viele nicht nur von Schröders Fesseln lösen wollen, sondern auch von denen der Union.

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