Teile von Israels Justizreform gekippt: Es wird eng für Netanjahu
„Israels Demokratie bleibt bestehen!“ So oder ähnlich reagierten Israels Medien, nachdem das Oberste Gericht Montagabend die erste Stufe der von der Regierung geplanten Justizreform außer Kraft gesetzt hatte.
Seit einem Jahr versetzt sie das Land in Chaos, mit täglichen Protesten bis zum Kriegsausbruch im Oktober. Was letztlich auch ein Anreiz für die Hamas war, ihr blutiges Massaker durchzuführen.
Knappe Mehrheit
Auf den ersten Blick fällte das Gericht seine Entscheidung mit knapper Mehrheit. Genau betrachtet aber war das eine klare Absage des Gerichts an die Reformpläne Premier Benjamin Netanjahus: Der will trotz drohender Verurteilung wegen Korruption im Amt bleiben, was mit diesem Urteil aber kaum noch möglich sein dürfte.
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Die Richter mussten vor ihrem Urteil nämlich die Frage klären, ob das Oberste Gericht überhaupt zuständig ist, wenn die Legalität eines Grundgesetzes „in eigener Sache“ zu prüfen ist – ob es also intervenieren darf, wenn die Regierung in ihren Gesetzen zu weit geht.
Hier war die Meinung eindeutig. Israels höchste Instanz wird zwar seit fast 20 Jahren durch die Ernennung neuer Richter immer konservativer. Urteile fallen daher nicht mehr so liberal aus wie vor zwei Jahrzehnten. Doch auf ihre grundsätzliche Aufgabe, alle Gesetze auf ihre Legalität zu prüfen, wollen die Richter nicht verzichten.
Mit gutem Grund, erklärt Prof. Suzie Nabot, Expertin für Verfassungsrecht: „Israel hat keine Bremsen bei der Erlassung neuer Gesetze. Keine Verfassung, kein Oberhaus, kein Direktwahlrecht. Grundgesetze können von der Regierung mit Hilfe einer ihr hörigen Koalition mit einfacher Mehrheit durchgepeitscht werden. Ohne Rücksicht auf die Opposition. Allein das Oberste Gericht kann in diesem System willkürliche Regierungsbeschlüsse stoppen.“
Tricks
Was mehr als schlecht für Netanjahu ist. Denn mit Weiterbestehen der richterlichen Einspruchsmöglichkeit haben auch die nächsten Stufen der Reform kaum Aussichten: So sollte die Ernennung neuer Richter fast ausschließlich von der Mehrheit im Parlament abhängig gemacht werden. Eine Amtsenthebung des Premiers sollte so gut wie unmöglich gemacht werden, selbst bei verurteilten Straftätern. Für den Angeklagten Netanjahu ein entscheidender Paragraf.
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Die schwindende Zahl seiner Anhänger redete in den letzten Kriegsmonaten viel von „Einheit“ und „Gemeinsamkeit“, kaum noch von der umstrittenen Reform. Doch haben sie ihren Rettungsversuch keineswegs vergessen. Daher probierten sie auch, mit einem Trick das Urteil in letzter Minute zu verhindern: Wie aus dem Nichts gelangte ein Vorentwurf des Urteils an die Medien. Auch die knappe Ein-Stimmen-Mehrheit sickerte durch. Kein Wort hingegen über die klare Mehrheit für das Recht, auch Grundgesetze auf ihre Legalität prüfen zu dürfen.
Doch die Richter ließen sich nicht unter Druck setzen. Im Gegenteil: Sie veröffentlichten ihre Entscheidung bereits am Montag und nicht wie geplant am 12. Jänner. So kam das Gericht auch Plänen zuvor, per Gesetz eine „Verkündung des Urteils in Kriegszeiten“ zu verhindern.
Gekippt
Israels Oberstes Gericht hat einen zentralen Teil der Justizreform von Ministerpräsident Netanjahu verworfen. Acht der 15 Richter stimmten für die Aufhebung, weil „die Änderung den Kern von Israels Wesen als demokratischen Staat einen schweren und noch nie da gewesenen Schaden zufügt“ hätte. Die Regelung hätte dem Gericht die Möglichkeit genommen, Entscheidungen der Regierung als „unangemessen“ zu kippen
Gleichgewicht
Der Streit über die Reform spaltete die Gesellschaft. Experten stuften das Urteil als bedeutsam für den Staat ein, der immer wieder um ein Gleichgewicht zwischen dem jüdischen und dem demokratischen Charakter des Landes kämpft
Neuwahlen
Einheit? Gemeinsamkeit? Nichts da. Plötzlich ist die Vorkriegshetze wieder deutlich zu hören: „Die Richter beanspruchen das Gesetz und alle Vollmachten ausschließlich für sich“, befand Justizminister Yariv Levin, der Architekt der Reform. Der Abgeordnete Simcha Rothman, Vorsitzender des Justizausschusses, sagte: „Das Oberste Gericht führt seinen eigenen Krieg weiter.“ Die Schimpftiraden zeigen die Unzufriedenheit der Befürworter der Justizreform. Sie signalisieren aber auch ihr Scheitern.
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Was sie nicht davon abhalten muss, es nach dem Krieg erneut zu versuchen. Ihre Gegner rufen hingegen nach Neuwahlen, direkt nach dem Krieg. Sogar die Netanjahu-hörige Tageszeitung HaYom schließt Neuwahlen nicht mehr aus. Für die Regierung wäre das nicht die optimale Lösung. So zeigten Umfragen schon vor Kriegsbeginn: Würden jetzt Wahlen stattfinden, erhielte die Justizreform gerade noch 20 der 120 Parlamentsstimmen. Einheit und Gemeinsamkeit, die nicht im Sinne Netanjahus sind.
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