Nach Niederlage auf dem Schlachtfeld: "Putin ist mehr Hasardeur als Stratege"
Kiews Truppen erobern die strategisch wichtige Stadt Lyman zurück. Militäranalytiker Feichtinger sieht darin einen großen Erfolg, aber noch keine Kriegswende.
03.10.22, 10:10
Nur zwei Tage nachdem Kremlchef Wladimir Putin die Annexion von vier ukrainischen Regionen unter Pomp verkündet hatte, musste er am Wochenende eine herbe Schlappe hinnehmen. Denn ukrainische Verbände haben die strategisch wichtige Stadt Lyman, die russische Truppen erst im Mai eingenommen hatten, zurückerobert. "Dank an unser Militär", triumphierte Ukraines Präsident Wolodymyr Selenskij am Sonntag in einem Video.
Lyman hatte zu Kriegsbeginn zwar nur 21.000 Einwohner, doch die Stadt stellt einen wichtigen Verkehrsknoten dar – mit Eisenbahn- und Straßenverbindungen in die Großstädte Charkiw und Horliwka. Sie gilt als "Tor zum Donbass", von Lyman aus können die Ukrainer jetzt in die Tiefen von Lugansk und Donezk vorstoßen.
"Genau das werden sie auch tun", sagt der Militäranalytiker Walter Feichtinger im KURIER-Gespräch.
"Sie werden die aktuelle Schwäche des Gegners ausnützen, weil nach der russischen Teilmobilmachung frische Kräfte erst in Wochen, wenn nicht Monaten an der Front eintreffen werden." Auch aus wettertechnischer Sicht dürfte die Gegenoffensive beschleunigt werden, "denn setzen einmal die Herbstregenfälle ein, ist es für die Panzer sehr schwer, voranzukommen", so der Präsidenten des "Center für Strategische Analysen". Das berge freilich auch Gefahren – die Logistik für den Nachschub werde schwieriger und "Flankenangriffe" drohten.
Die Eroberung Lymans durch ukrainische Soldaten sei jedenfalls ein "großer Erfolg", allerdings noch nicht "die Wende in dem Krieg", sagt Feichtinger. Seit sechs Wochen beobachte man zwar, dass Putins Streitkräften offenbar die Präzisionswaffen ausgehen, "aber er kontrolliert noch immer rund ein Fünftel" der Fläche des Nachbarstaates. Als Verlierer des Feldzuges könne man ihn jedenfalls nicht bezeichnen.
Langfristig aber, meint der Brigadier a. D., könne der Waffengang Russland ins Verderben stürzen, weil "Putin eher wie ein Hasardeur und nicht wie ein Stratege wirkt". Feichtinger nennt die Gründe für seine Einschätzung: Der Kremlchef würde seinem Land geostrategisch schaden, weil selbst Indien und vor allem China auf Distanz zu Moskau gingen. Auch wirtschaftlich gehe es mit dem Land bergab, die Sanktionen führten zu einer Rezession, und die Aufrechterhaltung der 1.000 Kilometer langen Front würde enormer Ressourcen bedürfen, die anderswo fehlten. Und dass Russland künftig so viel Gas und Öl an Europa verkaufen wird wie vor dem Krieg sei ausgeschlossen. "All das kann zu einem strategischen Desaster führen", analysiert der Experte.
Massiv unter Druck stehe Putin bereits jetzt, was den "Einsatz von taktischen Atombomben" wahrscheinlicher gemacht habe. Dieser würde nun sogar im Einklang mit der russischen Doktrin stehen, die die Verwendung von Nuklearwaffen ermöglicht, sollte das Land angegriffen werden. Und nachdem die vier Regionen seit der Annexion als russisch gelten (ebenso wie die Krim seit 2014), kann jede Kampfhandlung dort als Angriff auf Russland interpretiert werden.
"Sind im Krieg mit Putin"
Während Papst Franziskus einen Friedensappell an den russischen und ukrainischen Präsidenten richtete, sprach Karl Lauterbach als erste deutscher Minister ein bisheriges Tabu an: "Wir sind im Krieg mit Putin. Es muss weiter der Sieg in Form der Befreiung der Ukraine verfolgt werden. Ob das Putins Psyche verkraftet, ist egal."
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