Nach Angriff auf Kurden: NATO lässt Erdogan abblitzen

Türkei kann nicht mit Beistand rechnen. Militärbündnis bildet wegen der Militäroffensive aber einen Krisenstab. USA ziehen weiter ab.

Angesichts der türkischen Offensive habe die NATO einen Krisenstab gebildet. Die Task Force solle sich mit dem türkischen Militäreinsatz und seinen möglichen Folgen beschäftigen, berichtet die Welt am Sonntag unter Berufung auf NATO-Kreise.

Die Türkei habe sich bei einer Sitzung der 29 NATO-Botschafter bereit erklärt, die NATO-Partner laufend über Angriffe, Flüchtlingsbewegungen und Schäden in dem Kampfgebiet zu unterrichten. Außerdem habe Ankara klar gemacht, dass die Angriffe im Norden Syriens bis in die erste November-Hälfte hinein fortgeführt werden sollten.

Auch bei Gegenangriff keine Hilfe

Nach Informationen der Welt am Sonntag machten in der Sitzung des Nordatlantikrates vor allem Deutschland, Frankreich, Albanien, Island, Belgien und Luxemburg klar, dass Ankara von ihnen "keine Unterstützung" im Zusammenhang mit der Offensive in Nordsyrien erwarten könne. Daher könne die Türkei auch im Fall eines Gegenangriffs aus Syrien auf türkisches Gebiet und einer Anfrage an die NATO nicht mit Beistand nach Artikel 5 rechnen.

Der türkische Präsidentensprecher Kalin sagte, die USA sollten ihren Einfluss nutzen, damit die Kurden "ohne Zwischenfälle" abzögen. Präsident Recep Tayyip Erdogan habe die türkischen Truppen "angewiesen, auf ihrer Position zu bleiben und niemanden anzugreifen".

Drei Tage nach Verkündung einer Waffenruhe für Nordsyrien hat die Kurdenmiliz YPG mit dem Rückzug aus den umkämpften Gebieten begonnen. Die von der YPG angeführten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) teilten mit, die umkämpfte Grenzstadt Ras al-Ain verlassen zu haben.

Kurden verließen Grenzstadt

"Wir haben keine Kämpfer mehr in der Stadt", schrieb ein SDF-Sprecher am Sonntag bei Twitter. Das türkische Verteidigungsministerium teilte am Sonntag ebenfalls mit, es verfolge den Abzug der YPG. Es gebe dabei "keinerlei Hindernisse".

Die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte meldete, dass sich rund 500 SDF-Kämpfer komplett aus Ras al-Ain zurückgezogen hätten. Zuvor seien Leichen und Verwundete aus dem Ort gebracht worden. Das türkische Verteidigungsministerium erklärte, ein Konvoi aus 55 Fahrzeugen sei nach Ras al-Ain hereingefahren. Danach habe ein Konvoi aus 86 Fahrzeugen die Stadt in Richtung Tall Tamar verlassen.

Ras al-Ain wurde zuletzt von türkischen Militäreinheiten und syrischen Hilfstruppen belagert. Die kurdisch dominierten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) hatten die türkische Regierung beschuldigt, den Abzug ihrer Kämpfer aus Ras al-Ain zu blockieren.

Laut der Beobachtungsstelle gab es am Wochenende eine Reihe türkischer Luft- und Mörserangriffe nahe Ras al-Ain, bei denen 14 Zivilisten getötet worden seien. Das türkische Verteidigungsministerium warf der YPG vor, binnen 36 Stunden 14 Angriffe verübt zu haben.

US-Truppen ziehen weiter ab

Die US-Streitkräfte haben ihren Truppenabzug aus dem nordsyrischen Grenzgebiet zur Türkei unterdessen fortgesetzt. Mehr als 70 gepanzerte Fahrzeuge mit US-Flaggen rollten am Sonntag durch die Stadt Tal Tamr, wie ein Reporter der Nachrichtenagentur AFP beobachtete.

Nach Angriff auf Kurden: NATO lässt Erdogan abblitzen

US-Militärkonvoi in Nordsyrien

Die gepanzerten Fahrzeuge wurden bei ihrer Fahrt durch Tal Tamr von Hubschraubern eskortiert. Laut Informationen der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte kam der Konvoi vom US-Truppenstützpunkt Sarrin in der Nähe der Grenzstadt Kobane im Westen und war unterwegs in Richtung Hassake. Sarrin sei bislang der größte US-Truppenstützpunkt im Norden Syriens gewesen, sagte der Leiter der Beobachtungsstelle, Rami Abdel Rahman.

Die US-Truppen hatten in den vergangenen Tagen bereits drei andere Truppenstützpunkte aufgegeben. Die US-Regierung hatte am 14. Oktober, fünf Tage nach dem Beginn einer türkischen Offensive gegen die YPG, den Rückzug von rund 1.000 US-Soldaten aus dieser Region angekündigt. Schon am 7. Oktober setzte der Abzug von US-Soldaten ein. Am vergangenen Donnerstag wurde eine Waffenruhe ausgerufen, die sich als brüchig erwies.

Der Abzug der US-Truppen werde "Wochen, nicht Tage" dauern, sagte US-Verteidigungsminister Mark Esper an Bord eines Fluges nach Afghanistan. Dieser solle "sehr überlegt und sehr sicher" verlaufen. Die Soldaten sollen Esper zufolge in den Irak verlegt werden und sich von dort aus weiter am Kampf gegen die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) beteiligen. Mit dem Abzug aus Nordsyrien hatten die USA dem türkischen Einmarsch den Weg geebnet.

Über 160.000 Vertriebene

Humanitäre Helfer zeichneten weiter ein dramatisches Bild von der Lage der betroffenen Menschen. "Die vergangene Woche war ein totales Chaos für Hunderttausende Syrer", sagte Karl Schembri, Sprecher vom Norwegischen Flüchtlingsrat (NRC), dem TV-Sender CNN International. "Sie leben in Angst und Unsicherheit, ohne zu wissen, wo die nächste Bombe explodieren wird", sagte Schembri.

In gut einer Woche sind nach jüngsten Angaben des UN-Nothilfebüros Ocha mindestens 165.000 Menschen durch die Kämpfe vertrieben worden, darunter schätzungsweise 70.000 Kinder. "Mehr und mehr von ihnen werden in den benachbarten Irak und in andere Gegenden flüchten, die nicht darauf vorbereitet sind, vertriebene Familien aufzunehmen", sagte Schembri. Etwa 2.400 Menschen hätten bereits die Grenze zum Irak überquert. Die Situation in syrischen Lagern sei dabei "extrem besorgniserregend", hatte Ocha am Freitag mitgeteilt.

Vor Beginn der türkischen Angriffe hätten bereits mehr als 100.000 Vertriebene in Lagern in der Region gelebt, sagte Schembri. Mit der Unterstützung humanitärer Helfer hätten sie überlebt. "All das wurde im Lauf der vergangenen Woche gefährdet, weil die meisten Helfer selbst flüchten mussten." Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (ICRC) twitterte am Sonntag, eine der letzten noch verbleibenden internationalen Hilfsorganisationen in Nordsyrien zu sein.

 

Kommentare