Ende Jänner ist Prüfungszeit. Harry Myo Lin wird später noch Chinesisch lernen müssen. Der 32-Jährige sieht mit seiner schwarzen Umhängetasche jünger aus als er ist; wie ein typischer Student.
Dass er zwischen Vorlesungen und Prüfungen fast stündlich mit Rebellengruppen in Myanmar kommuniziert, mit ihnen über Friedens- und Demokratiebildung spricht und checkt, ob seine kämpfenden Freunde noch am Leben sind, wirkt hier, auf der anderen Seite der Weltkugel, in einem Wiener Kaffeehaus, eher surreal.
Vor drei Jahren putschte das Militär in Myanmar die demokratisch gewählte Regierung und riss die Staatsgewalt an sich. Die Bilder der Hunderttausenden friedlich Demonstrierenden, die Hand zum symbolischen Drei-Finger-Gruß erhoben, gingen um die Welt.
Das Militär schlug brutal zurück
Das Militär schlug die Proteste nieder, Tausende starben, Zehntausende kamen ins Gefängnis. Noch viel mehr gingen in den Dschungel, um kämpfen zu lernen: Dort bekriegen sich seit Jahrzehnten bewaffnete Rebellengruppen, die ethnische Unabhängigkeit wollen. Seit dem Putsch haben sie jedoch einen gemeinsamen Feind: die Militärjunta.
"Die Gruppen sind extrem gut organisiert“, erzählt Harry, „nicht nur militärisch: Sie haben eigene Krankenhäuser und Schulen aufgebaut und unterstützen sich gegenseitig in der Kampfausbildung.“ Vor dem Putsch wäre so eine Zusammenarbeit kaum möglich gewesen.
Mit Erfolg: Das Militär verliert an Stärke. Im vergangenen Herbst schlossen sich drei Gruppen zur Drei-Brüder-Allianz zusammen und schlugen am 27. Oktober an mehreren Orten im Shan-Staat an der chinesischen Grenze koordiniert los.
Innerhalb weniger Wochen brachten die Rebellen im Zuge der nach ihrem Startdatum „Operation 1027” genannten Offensive Hunderte Militärbasen und Außenposten an sich und übernahmen auch die Kontrolle über 30 bis 40 Kleinstädte. Zuletzt über das strategisch wichtige Laukkaing (siehe Karte unten), wodurch sich jetzt alle Grenzübergänge zu China außer jenem in Muse in Rebellenhand befinden.
“Dass diese Operation so durchschlägt, haben sie wahrscheinlich selbst nicht erwartet”, sagt der Wiener Myanmar-Kenner Georg Bauer. Doch weil die Allianz entscheidende Erfolge erzielte, schlossen sich der Offensive weitere Gruppen, auch in anderen Regionen des Landes an - was die Junta erst recht unter Druck brachte.
Mehrfrontenkrieg stellt Militär vor Probleme
Über Jahrzehnte konnten die Generäle an der Macht bleiben, weil sie nach dem Prinzip “teile und herrsche” durch taktische Waffenstillstände mit einzelnen Gruppen die Anzahl der Fronten begrenzte. Das funktioniert jetzt nicht mehr.
Zudem rüsten die Rebellen auch technologisch auf, etwa mittels Drohnen. Erstmals schlossen sich den meist ethnischen Rebellengruppen auch junge Studenten und Ingenieure aus der Mehrheitsbevölkerung der Bamar an, die entsprechendes Know-how mitbrachten.
"Zwar hat das Militär mit seinen Jets und Hubschraubern nach wie vor die Luftüberlegenheit“, sagt Bauer, aber keine absolute Dominanz des Luftraums mehr. Den Luftschlägen gegen Dörfer, mit denen sich das Militär regelmäßig für Verluste am Boden rächt, haben die Rebellen aber nichts entgegenzusetzen.
Großstädte nach wie vor unter Armeekontrolle
Gleichzeitig sind ihre Erfolge auf entlegenere, gebirgige Dschungelregionen begrenzt. Die großen Städte in der zentralen Tiefebene wie Yangon oder Mandalay sind weiter fest in der Hand der Junta. Einerseits, weil das Terrain für den leichter bewaffneten und mit Guerrilla-Taktiken kämpfenden Widerstand schwieriger ist. Und andererseits, weil man nahe der chinesischen Grenze leichter an Waffen kommt.
Zwar ist das Reich der Mitte politisch und wirtschaftlich der wichtigste Partner der Generäle, beliebt sind diese in Peking aufgrund ihrer Unzuverlässigkeit aber nicht, sagt Bauer.
Das Fass zum Überlaufen brachten dann wohl Online-Betrugsfabriken, die von Myanmar - genauer gesagt der Region um Laukkaing - aus operierten, aber einerseits systematisch Chinesen ins Visier nahmen und in denen andererseits auch Chinesen zur Zwangsarbeit gezwungen wurden. Auch darum ließ man die Allianz gewähren, hatte sie doch explizit das Beenden der Cyberkriminalität in der Region in ihre Kampfziele aufgenommen.
Strategische Interessen stehen für China im Vordergrund
Doch am Ende stehen die strategischen Interessen im Vordergrund. So entwickeln die beiden Länder im Rakhine-Staat, der Heimat der verfolgten Rohingya-Minderheit, einen gemeinsamen Tiefseehafen. Dieser soll China in Kombination mit einer neuen Bahnlinie und Pipelines im Konfliktfall mit den USA absichern, indem man sich den Zugang zum Indischen Ozean und Öl aus Nahost auch ohne die für Peking nicht zu kontrollierenden Schifffahrtsstraße von Malakka sichert.
Glücklicher, sagt Bauer, waren die Chinesen aber definitiv mit der Regierung von Aung San Suu Kyi, der in Haft sitzenden geputschten Regierungschefin und Friedensnobelpreisträgerin. Im Westen wird sie als Freiheitskämpferin gesehen; in der Bevölkerung wird ihr hoch angerechnet, dass sie ihre Familie im Ausland zurückließ, um sich für die Demokratisierung ihres Heimatlandes zu engagieren.
Doch besonders die Jüngeren halten ihr vor, sich weder gegen den Völkermord an den muslimischen Rohingya gestellt noch eine Aussöhnung mit den ethnischen Rebellengruppen forciert zu haben. “Wir wissen heute nicht, wofür sie stehen würde, wenn sie frei käme”, sagt Harry.
Wenn er über sein Land spricht, öffentlich oder gegenüber Politikern, bekommt er meist Mitleidsbekundungen zu hören: Wie schade, dass der demokratische Wandel Myanmars gescheitert sei. “Dabei kämpft die Bevölkerung nach wie vor, militärisch und friedlich - selbst in den Städten, wo das Militär stark ist”, erzählt Harry.
Ziviler Ungehorsam und Wirtschaftsboykott
Protestierende, die aus dem Nichts auftauchen, Flugblätter auf die Straßen werfen und sofort wieder verschwinden; Zivilisten, die die Produkte der Staatsunternehmen boykottieren oder eine auf Kryptowährungen bauende Bank nutzen, um die nationalen Finanzsysteme zu umgehen. Denn auch die Wirtschaft des Landes steht weitgehend unter Kontrolle der Militärs.
Geschichte Seit 1962 regiert das Militär unter Abhaltung von Scheinwahlen. 2012 begann ein Prozess der Öffnung, der nach einem Erdrutschsieg von Aung San Suu Kyis NLD 2021 wieder in einem Militärputsch endete.
4.400 Menschen starben seitdem. Mehr als 25.000 wurden verhaftet, 2,6 Millionen sind auf der Flucht. Das Militär verfügt über rund 400.000 Soldaten, ein Vielfaches der Rebellen.
Um die Junta zu besiegen, wird es aber zu signifikanten Absetzbewegungen innerhalb des Militärs kommen müssen. Und das wird erst passieren, wenn die Soldaten ihre persönliche Sicherheit auf der Seite der Rebellen eher gewährleistet sehen, sagt Bauer.
Der Westen hält sich weitestgehend heraus
Auf Hilfe aus dem Westen darf der Widerstand jedenfalls nicht zählen. Auch Österreich bzw. die EU halten sich mit Ausnahme eines Sanktionspakets zurück. Weder wird effektive humanitäre Hilfe geleistet noch die demokratisch gewählte Untergrundregierung unterstützt. Möglichkeiten gebe es genug, sagt Bauer, “aber es fehlt der politische Wille”.
Harry ist trotzdem überzeugt, dass das Militärregime in zwei, drei Jahren besiegt sein könnte. Was dann passiert, sei die eigentliche Herausforderung. Zwar gibt es seit Längerem Verhandlungen der demokratischen Kräfte und unterschiedlicher Rebellengruppen über eine neue Verfassung, aber “es gibt derzeit noch keinen Plan für ein alternatives politisches System danach”, sagt Harry. Ohne einen solchen laufe Myanmar aber Gefahr, nach einer Befreiung von der Junta in einem Bürgerkrieg zu versinken.
Würde Harry zurückkehren, wenn er könnte? “Sofort. Ich fühle mich schon schuldig, dass ich hier bin, während andere gefangen genommen werden - oder schlimmer”, sagt er, bevor er seine Tasche schnappt und auf die Uni läuft.
Kommentare