Tagebuch eines EU-Neulings

Tagebuch eines EU-Neulings
Von Bürokratie und "Gänsehaut"-Momenten: Wie der neu gewählte Grüne EU-Mandatar die fünf Wochen von der Wahl bis zur Angelobung erlebt hat.

Michel Reimon, 42, bis Anfang 2014 Landtagsabgeordneter im Burgenland, wurde Ende Mai als Listen-Zweiter der Grünen ins EU-Parlament (EP) gewählt. Der KURIER hat ihn um das "Tagebuch" seiner ersten Wochen als EU-Mandatar gebeten.

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Gleich nach der Wahl ändert sich der Lebensrhythmus: Am Dienstag findet in Brüssel die erste Fraktionssitzung statt, seitdem wird jede Woche hin- und hergeflogen: Meine Woche schaut ab sofort so aus: Montag bis Donnerstag Brüssel (Straßburg), Freitag und Samstag Arbeitstage in den Bundesländern, Sonntag nach Möglichkeit frei. Mein Plan war, für die drei bis vier Tage in Brüssel immer ein Hotel zu buchen. Dany Cohn-Bendit hat das über 20 Jahre so gemacht. Bald merke ich: Ich brauche doch eine Wohnung. Ab Herbst will ich eine kleine haben. Vorerst ist Hotelalltag angesagt – mit einer kuriosen Episode: Ein Brüsseler Hotel will mir "wegen Plenartagung des EP" einen "Eventaufschlag" von 50 Prozent berechnen. Es ist keine Plenartagung. Das EU-Parlament muss als Sündenbock herhalten.

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Fast jeder Zweite der 751 Abgeordneten ist zum ersten Mal ins EU-Parlament gewählt worden – die Neuen werden eingeschult: Das EU-Parlament ist eine gut organisierte Bürokratie. Für neue Abgeordnete gibt es einen ,Welcome Parcour‘: Sie zeigen dir, wie man ins Internet kommt, Belege richtig einreicht, usw. Das funktioniert tipptopp und in vielen Sprachen. Nach der 7. Station gehst du mit deinem neuen Parlamentarier-Ausweis raus.

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Die Abgeordneten haben mehr Freiraum als im Nationalrat oder Landtag – das hat Vor- und Nachteile. Es gibt kein Parteibüro, das sich um alles kümmert. Du hast die Verpflichtung, aber eben auch die Möglichkeit, Sachen selbst zu machen und deine Mitarbeiter selbst auszusuchen. Dadurch bist du viel unabhängiger als ein Rädchen im Parteiapparat. Die Kehrseite: Es läuft dir hier keiner nach. Ich habe die Mitarbeiterinnen von Eva Lichtenberger (die nicht mehr kandidierte, Anm.) übernommen – sie kennen sich aus, nehmen mir viel ab. Ohne sie wäre ich in den ersten Wochen komplett geschwommen.

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Vieles in Brüssel ist neu – unter anderem die Sprachenvielfalt: In der Grünen Fraktion sind wir 50 Leute, die ein Dutzend Sprachen sprechen. Daran muss man sich erst gewöhnen. Wird in einer Sprache gesprochen, die ich nicht verstehe, setze ich Kopfhörer auf – bis ich irgendwann merke, dass ich gerade Ulrike Lunacek per Kopfhörer zuhöre.

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Innerhalb der Fraktion wird die Arbeit für die nächsten fünf Jahre verteilt – gerade als Neuer muss man darauf achten, nicht die Themen zugeteilt zu bekommen, die übrig bleiben: Ich komme in den ersten Wochen auf 15 Kennenlern-Kaffees mit Fraktionsführern und erfahrenen Abgeordneten. Jeder gibt eine Wunschliste ab: Das will ich unbedingt machen, das wäre okay, usw. Wir, die drei österreichischen Grünen, bekommen unsere Wünsche ohne Verhandlung – unser Wahlerfolg und Ulrike Lunaceks gutes Standing in der Fraktion helfen da sehr.

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Nicht alles läuft so reibungslos: In den ersten zwei Wochen funktioniert das WLAN nicht. Irgendwann lasse ich einen Seufzer los – und der Techniker erklärt mir, dass die Grünen schuld sind: Sie haben vor einiger Zeit mal darauf hingewiesen, wie leicht das System zu knacken wäre – jetzt ist es sicherer, aber dafür dauert es, bis es läuft. Im Plenum gibt es zwar WLAN, aber keine Steckdosen …

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Nach fünf Wochen als designierter Abgeordneter gibt es am 1. Juli die Angelobung – und damit auch gleich die erste Dienstreise nach Straßburg, dem zweiten Parlamentssitz: Ich habe mich nicht auf Straßburg gefreut, weil ich das Pendeln von Brüssel für eine Verschwendung halte. Jetzt, wo ich da bin, denke ich: ein tolles, wunderschönes Gebäude. Aber desaströs, das nur ein Mal im Monat zu nutzen. Das geht einfach nicht, da muss man mit den Franzosen noch einmal reden, dass sie das aufgeben.

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Die Konstituierung des Parlaments, bei der ein Orchester im Straßburger Plenarsaal die Europa-Hymne spielt, bleibt Reimon als "Gänsehaut-Moment" in Erinnerung: Ich bin nicht Hymnen-affin, aber die Europa-Hymne als übernationales Symbol ist schon schön. Die Nationalisten bleiben sitzen (u. a. Mandatare von FPÖ und Front National, Anm.), da stehe ich gleich noch viel lieber auf. Ansonsten ist die Zeremonie profan: Keine einzelne Angelobung, kein Pomp – für einen Österreicher kaum zu glauben.

Zur Person: Michel Reimon

Michel Reimon, Jahrgang 1971, war u.a. als Journalist tätig, bevor er Politiker wurde. Für die Grünen zog er 2010 als einziger Mandatar in den burgenländischen Landtag ein. Nicht erst seit der EU-Wahl macht sich Reimon gegen das Freihandelsabkommen TTIP mit den USA stark – er fordert u. a. transparentere Verhandlungen.

Die Grünen sind in dieser Periode mit drei statt bisher zwei Abgeordneten in Brüssel und Straßburg vertreten. Ulrike Lunacek, seit 2009 im EU-Parlament, wurde jüngst zu einer der Vizepräsidentinnen des Hauses gewählt. Neben Michel Reimon ist auch Monika Vana neu – sie saß bisher im Wiener Gemeinderat.

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