Caritas-Präsident Michael Landau: "Wünsche mir Abrüstung der Worte"
Er ist politische Instanz, Mahner, und Mann des Dialoges. Ende Jänner hört Michael Landau als Präsident der Caritas Österreich auf, bleibt aber Präsident der Caritas Europa. Das Abschieds-Interview fand im Waldkloster in Wien-Favoriten statt, wo mehrmals die Woche rund 100 Essensrationen an Bedürftige ausgegeben werden.
KURIER: Haben Sie einen persönlichen Neujahrsvorsatz?
Michael Landau: Ich hoffe, wieder einige Bücher in die Hand nehmen zu können, zu mehr Sport zu kommen – aber das gehört leider zu den am meisten vernachlässigten Vorsätzen.
Und in ihrer Funktion als Caritas-Präsident?
Der Fokus wird bei den Armutsthemen liegen. Ich würde mir wünschen, dass es zu einer wirklichen Reform der Sozialhilfe kommt. Und weil wir hier in einer Lebensmittelausgabestelle sind: Es kann nicht sein, dass sich Pensionisten und Pensionistinnen, die ein Leben lang gearbeitet haben, am Ende ihres Lebens um Lebensmittelpakete anstellen müssen.
Die kräftige Pensionserhöhung von 9,7 % war schon sehr umstritten.
Das war keine Erhöhung, sondern nur eine Anpassung an die auch kräftige Inflation. Für Menschen, die ohnehin schon jeden Euro dreimal umgedreht haben, ist eine Erhöhung der Miete um 100 Euro, eine Verdoppelung der Energiekosten nicht stemmbar.
Die Regierung hat doch Milliarden an Hilfen, Klima- und anderen Boni, Einmalzahlungen ausgeschüttet ...
Auf der einen Seite hat die Regierung in der Krise Etliches richtig gemacht. Wer das vom Tisch wischt, schlägt die Regierung unter ihrem Wert. Wer so tut, als ginge das Land den Bach hinunter, erfindet eine Erzählung, die nicht stimmt, besorgt das Geschäft von Populisten. Aber wenn es um Armutsbekämpfung und -vermeidung geht, sind vier Felder zentral: Die substanzielle Erhöhung der Mindestpensionen. Ein armutsfestes Arbeitslosengeld und die Valorisierung der Notstandshilfe. Das Dritte ist Kinderarmut ...
Es gibt ja den günstigen Burger ...
... ich glaube, da muss uns etwas Klügeres einfallen als die Empfehlung, zu McDonalds zu gehen. Das Vierte ist das Feld der Sozialhilfe, statt einem Mindestsockel wie früher gibt es heute Obergrenzen. Die Statistik Austria erhebt quartalsmäßig, wie es den Menschen im Land geht. Und da ist die Situation mit dem zweiten Quartal ’22 schwieriger geworden – Wohnen, Heizen, Energie belasten die Haushalte massiv.
Wie sieht das im internationalen Vergleich aus?
Wir haben einen über weite Strecken gut funktionierenden Sozialstaat. Wir haben in der Geburtslotterie mit Österreich einen Haupttreffer gezogen, und ich bin nicht sicher, ob die Menschen im Land das ausreichend sehen und wahrnehmen. Wir haben eine gute, sichere und stabile Situation. Gleichzeitig dürfen wir uns mit der Not nicht abfinden, die es auch bei uns gibt – wir sehen in den 71 Sozialberatungsstellen in Österreich einen Zuwachs von 50 Prozent bei Erstberatungen.
Trotz Stabilität und erwähnter Hilfen steht Türkis/Grün in Umfragen verheerend da. Woran liegt das?
Auch für Regierende ist es eine ganz schwierige Zeit, Energiekosten, Inflation, ich möchte nicht in ihrer Haut stecken. Mir macht Sorge, dass zunehmend Gruppierungen an die Macht drängen, die Probleme nicht lösen, sondern bewirtschaften, die Ängste nutzen und verstärken für ihre Agenda. Nichts hemmt solidarisches Handeln so wie Angst. Das mag sich kurzfristig politisch rechnen, langfristig ist es zum Schaden der Gesellschaft.
In Italien, den Niederlanden, Skandinavien rechnet es sich schon. Und ein Motor dafür scheint ungebremste Zuwanderung zu sein.
Man soll Ängste weder weg- noch kleinreden. Dass es Europa in den letzten Jahren nicht gelungen ist, ein gutes und gemeinsames Asylsystem aufzubauen, ist kein Ruhmesblatt. Und ich habe Verständnis, dass die Menschen wissen wollen, wer über die Grenzen kommt. Es muss möglich sein, beides zu leisten: Schutz für die Grenzen und Schutz für die Menschen, die ihn brauchen. Asyl ist ein Menschenrecht. Wir müssen auch schauen, dass wir Menschen, die wir brauchen und die hier einen Beitrag leisten wollen, nicht ins Asylsystem zwingen, sondern andere Zugänge schaffen.
Viele haben den Eindruck, dass das Menschenrecht ausgenutzt wird. Kann Europa das leisten, dass alle kommen, die kommen mögen?
Mit raschen und fairen Asylverfahren ist allen am meisten gedient. Nicht jeder, der Asyl beantragt, wird auch Asyl erhalten können.
Asylverfahren an den Grenzen, wie jetzt beschlossen, oder außerhalb Europas?
Es ist nicht zentral, wo es stattfindet, sondern dass es qualitätsvoll und sicher stattfindet. Auch an den Grenzen darf es keine menschenrechtsverdünnten Zonen geben.
Nun poppt in Europa der muslimische Antisemitismus auf, zusätzlich zu dem von links und rechts.
Ich bin froh, dass Österreich hier eine sehr klare Linie hat, dass es für Antisemitismus keinen Platz geben darf. Ich halte die Entwicklungen, die sich an den Universitäten in den USA, aber auch in Europa ...
Und an der Angewandten.
... gezeigt haben, für sehr problematisch. Offensichtlich gibt es auch einen beachtlichen linken Antisemitismus. Der deutsche Vizekanzler Habeck war da in Richtung Antisemiten bemerkenswert klar: Wer deutscher Staatsbürger ist, riskiert sich vor Gericht wieder zu finden, wer einen Aufenthaltstitel hat, riskiert ihn zu verlieren, wer sich um Aufenthalt bemüht, riskiert, abgeschoben zu werden. Ähnliche Klarheit wäre auch in anderen Ländern hilfreich.
Angst vor Überfremdung gibt es nicht nur wegen Antisemitismus.
Wer so tut, als gäbe es keine Probleme, sieht nicht genug auf die Wirklichkeit. Eltern erzählen mir, wie es ist, wenn Klassen kaum mehr ein deutsch-muttersprachliches Kind haben; ich würde mir wünschen, wenn die Regierung Mahnungen ernst nähme, dass Deutschförderklassen, so wie sie eingerichtet sind, einfach nicht funktionieren. Es hilft nicht, die Augen zu verschließen, wir kommen nur voran, wo wir einen lösungsorientierten, nicht einen angstfokussierten Zugang suchen.
Arbeitspflicht für Asylwerber, ist das eine vernünftige Idee?
Für gelingende Integration sind der Erwerb der Sprache und der Zugang zu Arbeit ganz wesentliche Elemente. Gleichzeitig nehmen wir in unseren Einrichtungen wahr: Das Problem ist nicht die mangelnde Willigkeit, sondern sind die fehlenden Rahmenbedingungen.
Und zwar?
Zum Beispiel Sprachkurse, die tatsächlich erreichbar sind, Zugänge zur Arbeit. Wenn das Ergebnis der Diskussion ist, dass es eine Öffnung für sinnvolle Beschäftigungsangebote gibt, dann kann aus der Debatte etwas Positives erwachsen. „Mein großer Feind ist das Warten“, hat mir ein Jugendlicher in einer Wohngemeinschaft für unbegleitete Minderjährige gesagt. Jugendliche kommen auf blöde Ideen, wenn sie nichts zu tun haben, da unterscheiden sich Nationalitäten nicht voneinander.
Work-life-Balance, Teilzeitarbeit, wenig verfügbares Personal – gefährdet das unsere Gesellschaft?
Ich bin so erzogen worden, dass Einsatz, Leistung wichtig ist für eine funktionierende Gesellschaft. Und ich bin nach mehr als einem Vierteljahrhundert in Leitungsfunktionen der Caritas optimistisch: Es gibt einen guten Grundwasserspiegel des Miteinander in unserem Land, wenn es enger wird, sind die Menschen füreinander da. Gleichzeitig ist ja nicht schlecht, wenn Väter zum Beispiel entscheiden, mehr Zeit mit ihren Kindern verbringen zu wollen.
Was halten Sie von der Forderung des SPÖ-Vorsitzenden, eine auf 2 % begrenzte Teuerung in die Verfassung zu schreiben?
Eine Verfassungsbestimmung bezahlt auch noch keine Rechnung. Die soziale Marktwirtschaft, also eine funktionierende Wirtschaft und eine soziale Absicherung, ist schon der richtige Weg.
Fürchten Sie einen Kanzler Herbert Kickl, der in allen Umfragen führt?
Ob es einen Kanzler Kickl gibt, ist eine Frage des Parlaments und der Demokratie, nicht einer Hilfsorganisation. Auch unter Türkis-Blau galt: Unsere Aufgabe ist unter jeder Bundesregierung die gleiche, Not sehen und handeln, aber auch Ursachen der Not zu bekämpfen. Also so viel Zusammenarbeit wie möglich und so viel Kritik wie nötig.
Der Ton in Österreich ist aber immer vergifteter.
Ja, was ich mir für das kommende Jahr wünschen würde: Eine Abrüstung der Worte, ein Herunter vom Gaspedal. Ich halte die unmittelbar vor dem Wahlkampf eingerichteten parlamentarischen U-Ausschüsse für extrem heikel, weil sie die Gefahr bergen, noch einmal einen Schub der Polarisierung auszulösen. Ich möchte für Dialog, Respekt, die Bereitschaft, Kompromisse zu suchen, werben – das sind auch gute Gegenmittel gegen alle Formen von Polarisierung und Populismus.
Polarisierung gibt’s auch in der Gesellschaft, Stichwort Klimakleber.
Die jungen Menschen nerven, aber sie haben Recht, wenn sie mit Beharrlichkeit auf die Dramatik der Klimakrise aufmerksam machen. Ob die Wahl der Mittel immer klug ist, darüber kann man trefflich streiten.
Sie werden immer wieder als Nachfolger von Kardinal Schönborn gehandelt. Schließen Sie eine solche aus?
Ich denke, dass ich das ausschließe ...
Konkret?
Ich bin sehr sicher, dass ich diese Aufgabe gerne nicht mache. Eminenz wird bis 2025 im Amt sein, dann wird es eine gute Nachfolge geben, und ich werde meine Caritas-Agenden bis 2027 mit großer Freude weiter machen.
Zur Person
Michael Landau (63), Sohn eines jüdischen Vaters und einer katholischen Mutter, ist promovierter Biochemiker, trat während des Studiums der katholischen Kirche bei und studierte zusätzlich Theologie. 1992 in Rom zum Priester geweiht, übernahm er 1995 von Helmut Schüller die Leitung der Caritas der Erzdiözese Wien (bis Feb. 2023). Seit 2013 Präsident der Caritas Österreich.
Nora Tödtling-Musenbichler folgt ab Februar als Caritas-Präsidentin nach. Landau bleibt Präsident der Region Europa der Caritas Internationalis.
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