Merkel-Biograf: "Sie versteht sich bis heute als Außenseiterin"
KURIER: "Sie kennen mich" lautet ein bekannter Wahlkampfslogan von Angela Merkel, aber kennen wir sie wirklich?
Ralph Bollmann: Jedenfalls besser, als viele denken. Gerade weil sie so nüchtern-sachlich auftritt, vermutet man, da muss hinter dieser Fassade noch etwas anderes sein. Das glaube ich aber nicht. Da gibt es nicht das große Rätsel, das noch zu entschlüsseln ist.
Aber es wird sicher etwas geben, dass Sie im Laufe Ihrer Recherchen überrascht hat.
Ja, wie früh sie oft schon Dinge öffentlich angekündigt hat, die zunächst gar nicht richtig wahrgenommen wurden. Zum Beispiel hat sie schon im Februar 2012 gesagt, sie werde in Sachen Griechenland keine Abenteuer eingehen, das verbiete ihr der Amtseid. Wenige Monate später ist es so gekommen: Sie hat die Griechen nicht aus dem Euro geworfen. So etws wurde oft überhört, weil sie es so dröge vorgetragen hat.
Man hätte bei Merkel also öfters mal besser hinhören sollen?
Diese Form der Kommunikation und des Erwartungsmanagements ist viel kritisiert worden. Darin liegt aber ein Stück ihres Erfolges: Indem sie die Dinge auf eine nüchterne Art einführt und nicht wie ihr Vorgänger Gerhard Schröder auf den Tisch haut und „Basta“ ruft, erzeugt sie viel weniger Widerstand.
Inwiefern hat diese Art mit ihrer Herkunft in der DDR zu tun?
Als Pfarrerstocher musste sie aufpassen, was sie sagt. Zudem hat sie gelernt, geduldig zu sein. 28 Jahre lang hat sie auf den Fall der Mauer und auf die Reisefreiheit gewartet. Dazu kommt der Pragmatismus, sich auf die gegebene Situation einzustellen und sich irgendwie durchzuwursteln: Wenn man die schicken Ikea-Möbel nicht bekommt, muss man eben – wie sie mal sagte – eine vietnamesische Bastmatte auftreiben.
Die Kanzlerin macht sich einen Kopf über Möbel und Ästhetik?
Oh ja, das ist ein wichtiger Punkt ihrer Persönlichkeit. Darüber haben sich viele getäuscht, weil sie als Ministerin in diesen weiten Röcken aufgetreten ist. Das war aber gar nicht ihr Stil, sondern bereits ein Zugeständnis an die öffentlichen Erwartungen. Als Wissenschaftlerin in der DDR trug sie meist Westklamotten, zum Beispiel Wollpulli und Cordhose. Überhaupt bewegte sie sich in einem Akademiker-Milieu, das gewisse Ähnlichkeiten mit der westlichen Alternativ-Szene hatte: Das Leben in der besetzten Altbauwohnung in Berlin, die illegalen Reisen in den Kaukasus waren weit weg von den SED-Bonzen im Plattenbau und den CDU-Funktionären im Einfamilienhaus.
Merkel als Frau des Anti-Establishments?
In gewisser Weise versteht sie sich bis heute als Außenseiterin. Sie kann sich in größeren und kleineren Runden sehr darüber aufregen, was in diesem Land schiefläuft, wie träge und unbeweglich das Establishment ist, etwa die Manager. Sie hat offenbar nicht ganz verinnerlicht, dass sie nach 16 Jahren als Regierungschefin zu diesem Establishment dazugehört.
Wäre sie denn in einer anderen Partei besser aufgehoben gewesen?
Merkel ist in der Gesellschafts- wie in der Wirtschaftspolitik eine Liberale. Dafür gibt es im westlichen System gar nicht die richtige Partei. Kürzlich sagte sie, am Abend der Bundestagswahl werde sie schon Verbindung zu der Partei haben, die ihr nahesteht – bis ihr wieder einfiel, dass sie dort ja auch Mitglied ist. Formal ist sie der CDU übrigens nie beigetreten, nur dem Demokratischen Aufbruch, der sich kurz vor der Wiedervereinigung mit der Ost-CDU verbündet hat.
Merkel war nicht nur die erste Ostdeutsche, sondern auch die erste Frau im Kanzleramt. Der Blick auf ihre Arbeit war und ist noch sehr männlich geprägt: Da ist von „Kohls Mädchen“ die Rede, „Mutti“ oder der „schwarzen Witwe“, die ihre Konkurrenten verspeist. Warum hat sie dieses Bild nie korrigiert?
Das zu thematisieren, hätte ihr nur schaden können. Das gilt auch für andere Anwürfe, die sie stoisch ertragen hat. Grundsätzlich ist sie bei Frauenthemen im Lauf der Jahre immer engagierter geworden – auch aus dem Frust heraus, dass sich in der Gesellschaft so wenig bewegt hat.
Sie fiel kürzlich mit dem Satz auf, dass es bei Frauen „tendenziell eine gewisse Sehnsucht nach Effizienz“ gibt – einige Beobachter haben das ergänzt: „Und Männer labern nur herum“.
Gerhard Schröder hat über Merkel in der Flüchtlingskrise mal den dummen Satz gesagt: Sie hat Herz, aber keinen Plan. Dabei agieren Frauen in Führungspositionen oft stärker sachlich-rational, und bei den Männern läuft es mehr über die Emotionen. Viele von Merkels männlichen Kollegen haben sich durch ihr Gockel-Verhalten ins Abseits manövriert. Sie musste nur mit Disziplin und Zurückhaltung dabei zusehen. Auch in der Flüchtlingsfrage blieb sie nervenstark, während etwa CSU-Chef Horst Seehofer von der Angst vor den Wählern getrieben war.
Seehofer hat sie 2018 wie kein anderer zuvor öffentlich gedemütigt, auch andere Konkurrenten arbeiteten sich regelmäßig an ihr ab.
Jedes Mal, wenn diese Macho- Männer auf sie losgegangen sind, hat das zu einer gewaltigen Solidarisierung geführt, zumindest in der gesellschaftlichen Mitte. Das ist ein Mechanismus, den Leute wie Friedrich Merz nicht verstanden haben: Ein Frontalangriff auf die Kanzlerin nützt ihr in der Regel nur.
Es heißt oft, ihre Entscheidung, 2015 die Grenzen nicht zu schließen, habe mit ihrem Glauben zu tun.
Das hat weniger mit ihrer Sozialisation als Pfarrerstochter zu, dafür umso mehr mit ihrer Herkunft aus der DDR. Es ging um die Grenze zwischen Ungarn und Österreich, wo sich der Eiserne Vorhang im Sommer 1989 als erstes geöffnet hat. Sie wollte auf keinen Fall die Grenze schließen, deren Öffnung ihr persönlich die Freiheit gebracht hatte. Eine andere Lehre aus der Wendezeit war: Leute, die sich einmal in Bewegung gesetzt haben, sind nicht mehr aufzuhalten. Das hat die DDR-Führung im Sommer 1989 mit den Botschaftsflüchtlingen in Prag und Budapest versucht, und damit hat sie den eigenen Untergang nur beschleunigt. Merkels Haltung war: Die Leute, die jetzt auf der Balkanroute unterwegs sind, kann man nicht mehr zurückhalten. Wir müssen das Problem an der EU-Außengrenze lösen.
Das klingt nachvollziehbar, war aber auch ungewöhnlich riskant von ihr.
Ein weiterer Punkt war ihre Grundhaltung, dem Rechtsextremismus keinen Zentimeter Raum zu geben. Ende August 2015 beherrschten die Ausschreitungen vor dem Flüchtlingsheim im sächsischen Heidenau die Schlagzeilen. Jeder Schritt in Richtung Grenzschließung hätte im In- und Ausland wie ein Zurückweichen vor diesen Nazi-Schreihälsen gewirkt. Die pragmatische Grundkonzeption war: Deutschland verschafft durch die Aufnahme einer hohen Anzahl an Flüchtlingen der Europäischen Union die Zeit, zu einer gemeinsamen Lösung zu kommen.
Das war ja dann das Abkommen mit der Türkei.
Ja, das hat sie im Umgang mit Erdogan dann in neue Probleme gebracht. Aber die Tatsache, dass ihr das Schicksal der Flüchtlinge an den Außengrenzen relativ gleichgültig war, zeigt: Es ging nicht in erster Linie um einen christlichen Impetus, sondern um eine Mischung aus Pragmatismus und bestimmten Grundüberzeugungen in Bezug auf offene Grenzen und offene Gesellschaft.
International wurde sie dafür gefeiert, in Deutschland kritisiert.
Im Inland hat sie durch ihre Flüchtlingspolitik aber auch neue Anhänger gewonnen. Es bildete sich der Typus des „Linksmerkelianers“ aus dem rotgrünen Spektrum heraus, für den sie fast schon eine Art Heilige wurde. Ein ganz neues Merkel-Bild entstand – nicht „Sie kennen mich“, sondern: Sie kann überraschen. Eine Zeitlang standen Angela Merkel und der damalige österreichische Außenminister Sebastian Kurz in der deutschen Öffentlichkeit für die entgegengesetzten Konzeptionen von Offenheit und Abschottung.
Gleichzeitig geriet sie in den eigenen Reihen stärker unter Beschuss. Ihr wurde vorgeworfen, dass sie mit ihrem Handeln die AfD gestärkt hat …
Der Blick auf die Wählerwanderung zeigt: Das ist kein Problem der CDU, sondern aller demokratischen Parteien – vor allem auch der Mitte-Links-Parteien, die frühere Klientel nicht halten konnten. Auch in Österreich hat die SPÖ in Favoriten oder Simmering Wähler an die FPÖ verloren.
Dennoch diskutieren die Christdemokraten immer wieder darüber, wie man diese Wähler zurückholen kann, etwa mit einem rechteren Kurs.
Merkel hatte präsentierte zu den ersten Landtagswahlen, die nach der Flüchtlingsdebatte stattfinden, eine Wahlanalyse: In Baden-Württemberg hatte die CDU ungefähr gleich viele Wähler an die Grünen und an die AfD verloren. Für sie war klar: Die zu den Grünen Abgewanderten sind einfacher zurückzuholen als jene, die in Fundamentalopposition zur liberalen Demokratie stehen.
In den Jahren nach 2015 wurde Merkel heftig wie nie angefeindet. Wie hat sie das persönlich verändert?
Die Kritik war damals oft sehr unsachlich, ihr wurde das Wort im Mund verdreht. Das hat bei ihr zu einer starken Ernüchterung geführt, sie hat sich dann auch gegen berechtigte Kritik abgeschirmt. Daraus erklären sich dann auch unglückliche Auftritte wie nach der Bundestagswahl 2017, als sie nach dem relativ bescheidenen Ergebnis fast schon trotzig sagte, sie könne nicht erkennen, was sie jetzt anders machen solle.
Bis zum Ausbruch der der Pandemie hatte man den Eindruck, dass sie von der Bildfläche verschwunden war.
Sie hat sich in der Tat immer mehr abgeschottet, auch gegenüber Journalisten -zum Teil aus der Haltung heraus: Es hat ja eh keinen Zweck, die schreiben sowieso, was sie wollen. In der Corona-Pandemie war sie wieder als Krisenmanagerin gefragt. Ihr Amtsverständnis ist es, den Job bis zum letzten Tag ordentlich zu machen. Auch wenn sie dabei nicht verhindern kann, dass ihre möglichen Nachfolger schlecht aussehen. Zum Beispiel kann jedes Bekenntnis zum Klimaschutz, das sie jetzt nach der Flut ablegt, kann als Kritik an Armin Laschet verstanden werden. Das ist aber die Folge ihrer Grundentscheidung, ihr demokratische Mandat bis zum Ende auszuführen und nicht mitten in der Legislaturperiode abzutreten.
An Abtreten war bei ihrem vorläufig letzten Auftritt vor der Hauptstadtpresse am Freitag nicht zu denken. Sie sprach über die Flut und Pandemie – nach dem Motto: Es gibt viel zu tun, ich bin noch da. Kann Merkel denn loslassen?
Es fällt ihr vermutlich leichter als anderen, weil sie erst mit 35 Jahren in die Politik ging und davor schon ein anderes Leben hatte. Ich bin mir sicher, dass sie kein politisches Amt im engeren Sinn mehr anstrebt. Sie hatte 16 Jahre lang die mächtigste Position inne, die man als deutsche Staatsbürgerin erreichen kann. Danach einen weniger einflussreichen Posten anzunehmen, zum Beispiel als EU-Kommissionspräsidentin beim eigenen Nachfolger im Kanzleramt um Zugeständnisse zu betteln oder als UN-Generalsekretärin den Grüß-August zu geben: Das wäre nun wahrlich keine glorreiche Perspektive.
Merkel-Biografie: 1954 in Hamburg geboren, wächst Angela Dorothea Kasner nahe Templin, in der DDR, auf. Diese für ihre Politik prägende Zeit zeichnet Ralph Bollmann in seinem 800-Seiten-Werk „Angela Merkel. Die Kanzlerin und ihre Zeit“ nach (C. H. Beck Verlag)
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