„Mein Bemühen, mich jeden Morgen in den Spiegel schauen zu können"
KURIER: Herr Schieder, für Sie war es das erste volle Jahr im EU-Parlament. Was vermissen Sie im Vergleich zu Ihrer Zeit als Nationalratsabgeordneter?
Ich vermisse gar nichts – nicht die österreichische Innenpolitik und auch nicht, dass die EU-Kommission nicht dreimal die Woche eine Pressekonferenz macht und diese Inszenierungswut hat. Hier wird die Sacharbeit ganz groß geschrieben.
Herr Karas: Was war Ihr politisches Highlight des Jahres?
Das war das große Investitionsprogramm in die Zukunft Europas und gegen die Wirtschaftskrise mit einem Umfang von 1.800 Milliarden Euro – gepaart mit dem Rechtsstaatsmechanismus, dem EU-Wiederaufbaufonds und der Schaffung eines neuen Klimazieles. Das sieht für das Unionsgebiet 55 Prozent weniger -Ausstoß bis 2030 vor.
Herr Karas, Sie sind zuweilen nicht einverstanden mit dem Regierungskurs in Wien. Ich erinnere mich dabei an die Verhandlungen ums EU-Budget im Sommer. Wie gleicht man diese Spannungen aus?
Ein Parlamentarier ist kein weisungsgebundener Parteiangestellter. Parteien und Funktionen sind nicht Selbstzweck, sondern Instrumente der Demokratie. In erster Linie bin ich meinem Gewissen, den Menschen und der Zukunft Österreichs und Europas verpflichtet. Obwohl es mir nicht immer gelungen ist, so war und bleibt es mein Bemühen, mich jeden Morgen für mein Verhalten in den Spiegel schauen zu können, statt mich verstecken zu müssen. Das schließt Fehler nicht aus. Daher bin ich mit mir im Reinen. Wenn jeder nur das tut, was ein anderer will oder das einzelne nationale Interesse ist, dann ist die europäische Idee kaputt.
Schieder: Das Verhalten der österreichischen Bundesregierung in der Budgetfrage war nicht nur antieuropäisch, sondern auch letztlich aus österreichischen ökonomischen Interessen dumm. Österreich ist abhängig von den Nachbarn, und auch das Verhalten rund um Ischgl und Covid war weder europäisch noch im Interesse Österreichs.
Sind Sie denn nie in Konflikt mit der Bundespartei?
Schieder: Natürlich gibt es Sichtweisen, wo man sich fragt: Sieht man das mehr aus der europäischen oder sieht man es aus der nationalen Brille? Aber in Summe sehe ich da keinen großen Widerspruch.
Haben Sie schon einmal gegen Ihre sozialdemokratische Parteienfamilie (Fraktion) gestimmt?
Schieder: Schon öfter. Etwa bei Fragen, wo es um die Finanzierung der europäischen Verteidigung geht, dann sehe ich das als österreichischer Neutralitätsbefürworter skeptischer als meine Fraktion.
Die Pandemie hat das allmonatliche Pendeln zum Parlamentssitz in Straßburg vorerst gestoppt. Und auch in Brüssel durfte nur ein Bruchteil der 705 europäischen Abgeordneten anwesend sein
1.680Sitzungen
wurden 2020 dennoch abgehalten – fast alle virtuell. 455 Abstimmungen gab es (mit insgesamt fast 4.600 Einzelabstimmungen)
19 Österreicher
Die heimischen Mandatare im EU-Parlament: ÖVP (7), SPÖ (5), Neos (1); Grüne (3) und FPÖ (3)
Wobei hat Ihnen Corona einen Strich durch die Rechnung gemacht?
Schieder: Beim Thema Balkan. Ich habe hier im Parlament einige Verantwortungen, zum Beispiel für Nordmazedonien und für Kosovo; als Berichterstatter. Wegen Corona ist es mir heuer nur zweimal gelungen, nach Skopje zu reisen.
Wie viele Stunden am Tag haben Sie im Schnitt bei Videokonferenzen verbracht?
Schieder: Gefühlt eine Million.
Karas: Zu viel, das ist unglaublich anstrengend. Aber das Europäische Parlament konnte seine Arbeit aufrecht erhalten: Wir haben ein System entwickelt, dank dem wir rund 1.680 Sitzungen mit 338.000 Teilnehmern mehrsprachig von der Ferne abhalten konnten. Aber wenn man einander nicht gegenübersitzt, kann man einander nicht völlig verstehen. Man fühlt sich nicht. Demokratie braucht aber menschlichen Kontakt, menschliche Begegnung, menschliches Vertrauen. Und das geht wahnsinnig ab.
Der jüngste EVP-Abgeordnete, Bernhuber, sitzt im Parlament neben dem ältesten der EVP, Silvio Berlusconi. Neben wem, Herr Schieder, sitzen Sie? Schließt man Freundschaft?
Meine beiden Sitznachbarn sind die sozialdemokratischen Delegationsleiter aus Bulgarien und den Niederlanden. Klar schließt man Freundschaften, und das auch über Parteigrenzen, über andere Fraktionen hinweg, weil es viele Projekte gibt, für die man sich engagiert.
Wird bei den Abstimmungen im EU-Parlament Parteipolitik gemacht? Oder wird mehr nach nationalen Interessen entschieden?
Schieder: Weder noch. Es ist oft so, dass man mit der Fraktion nicht in allen Standpunkten einhergeht. Nicht alle 19 österreichischen Abgeordneten stimmen immer nach Fraktionslinie ab, sondern es hängt vom Thema ab. Man ist hier als Abgeordneter wesentlich freier.
Herr Karas, Sie sind ein lautstarker Kritiker des ungarischen Regierungskurses und treten auch in der EVP für den Rauswurf der Fidesz ein. Warum ließ sich das bisher nicht durchsetzen?
Es gibt einen Ausschlussantrag in der Partei und in der Fraktion. Über den Ausschlussantrag in der Partei konnte wegen Corona nicht abgestimmt werden. Fidesz ist aber von allen Funktionen und der Mitarbeit in der Partei suspendiert. Mir geht es darum, klare Konsequenzen zu ziehen, weil Glaubwürdigkeit in die Politik entscheidend ist; und man kann Fehlverhalten nicht immer nur mit machtpolitischen und taktischen Fragen verteidigen.
Eine klare Haltung – wäre das der Ausschluss der Fidesz?
Karas: Bei der Entwicklung, die Fidesz in Ungarn und in der EU nimmt, bin ich für einen Ausschluss aus der Europäischen Volkspartei.
Herr Schieder, was war aus Ihrer Sicht Ihr größter politischer Erfolg des Jahres?
Das war sicher die Etablierung des EU-Wiederaufbaufonds oder anders gesagt: das Lernen aus den Fehlern der Krise von 2008. Man nimmt angesichts der massiven wirtschaftlichen und sozialen Folgen von Covid auf dem Finanzmarkt ordentlich viel Geld in die Hand.
Sie meinen damit das gemeinsame Schulden Aufnehmen?
Schieder: Ja, das ist ein Erfolg.
Karas: Ein Riesenerfolg.
Das gemeinsame Schulden Aufnehmen weckt aber doch auch bei Menschen Ängste?
Schieder: Ja, bei solchen, die ein ökonomisches Verständnis von minus 4 haben. Sonst würde man gleich erkennen, dass es natürlich gut ist, dass die Europäische Union Mittel bereitstellt, um gemeinsam in unsere Zukunftsaufgaben zu investieren. Beispielsweise können wir die Klimakrise nur gemeinsam bewältigen.
Karas: Wenn man den Bürgern nicht erklärt, was mit dem Geld geschieht, sind sie zurecht skeptisch. Das ist die Verlogenheit und die Doppelbödigkeit der Informationspolitik sehr vieler Regierungen, die so tun, als wären sie nicht dabei, wenn in Europa etwas entschieden wird. Wenn ich mir in Österreich als Beispiel hernehme: Wir zahlen 1,3 Milliarden Euro pro Jahr Mitgliedsbeitrag. Aber allein die Teilnahme am Binnenmarkt macht 35 Milliarden Euro volkswirtschaftlichen Nutzen aus. Jeder muss seinen Teil am Ganzen leisten. Die Frage ist: Was bedeutet uns die Europäische Union? Empfinden wir uns als aktiven Teil und als europäische Bürger? Oder glauben wir, dass wir den Retourgang in den Nationalismus einschlagen müssen?
Was muss in Europa 2021, noch immer in der Coronakrise, unbedingt passieren?
Schieder: Europa muss eine Antwort geben auf die steigende Arbeitslosigkeit und die wirtschaftliche Krisensituation gleichzeitig nutzen, um einen Schritt nach vorne zu machen. Corona hat die Spaltung in der Gesellschaft vergrößert, zwischen denen, die Chancen haben und jenen, die keine haben. Wir müssen schauen, dass uns diese Spaltung nicht zerreißt.
Ihre Pläne in den Ferien?
Karas: Viel schlafen. Viel wandern gehen.
Schieder: Und viel kochen!
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