Totales Brexit-Chaos verschoben: May übersteht Misstrauensvotum
Immerhin. Das Chaos in London ist noch nicht ganz komplett: Nach der klaren Zurückweisung des Brexit-Abkommens im britischen Unterhaus wurde Premierministerin Theresa May am Mittwochabend im Amt bestätigt. Ein vom Oppositionschef Jeremy Corbyn angestrengtes Misstrauensvotum überstand die Tory-Chefin wie erwartet mit 325 zu 306 Stimmen.
Es war nicht das erste Misstrauensvotum gegen die schwer angeschlagene Regierungschefin in London. Bereits Mitte Dezember hatte sie sich der Vertrauensfrage im britischen Unterhaus stellen müssen. Doch obwohl am Dienstag sogar 118 ihrer Parteifreunde gegen den von May ausgehandelten Deal mit der EU stimmten, scheint sie derzeit alternativlos.
Damit ist May weiterhin auch für die geordnete Abwicklung des Brexit - ihr erklärtes Ziel - verantwortlich, völlig unklar ist freilich, wie genau dieser nun eigentlich aussehen soll. May kündigte an, sich gemeinsam mit den Chefs aller Parteien um eine neue Lösung bemühen zu wollen. Kommenden Montag werde sie die Pläne präsentieren.
In Großbritannien werden inzwischen auch die Rufe nach einem zweiten Referendum lauter.
Die Highlights der Brexit-Diskussion im Unterhaus
Denkbar sind nach wie vor folgende Szenarien:
Szenario 1: Großbritannien tritt mit 29. März ohne Abkommen aus der Europäischen Union aus. Das wäre der sogenannte harte Brexit.
Szenario 2: Die Anhänger eines zweiten Referendums setzen sich durch. Das Volk stimmt noch einmal grundsätzlich über den EU-Austritt ab. Befürworter gehen davon aus, dass eine neuerliche Abstimmung mit einer Mehrheit für einen Verbleib in der EU enden würde. Wobei man davon eigentlich auch bei der ersten Abstimmung ausgegangen ist. Die Stimmen für diese Option werden jedenfalls immer lauter. Am Mittwoch forderten dies auch 71 Labour-Abgeordnete. Parteichef Corbyn ist hier zurückhaltend. Er forderte heute lediglich einmal mehr Neuwahlen.
Szenario 3: Es findet doch noch ein geordneter Brexit statt. Dafür bräuchte May aber einen neuen Plan, eine Mehrheit und willige EU-Partner. Sie hat bereits angekündigt mit allen Parteien Gespräche zu führen. Für den von May jetzt gesuchten Konsens könnte es aber zu spät sein, von Seiten der EU werden Nachverhandlungen weiterhin abgelehnt. Möglich scheint aber, das legt jedenfalls ein Bericht der Times nahe, eine Verschiebung des Austritts.
Misstrauensvotum gegen Theresa May - der Live-Ticker zur Nachlese
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"Zombie"-Regierung
Willkommen zurück bei unserer Live-Berichterstattung zum Brexit. Genauer gesagt zum Misstrauensvotum gegen Theresa May. Aber inzwischen hängt ja der zumindest geordnete Austritt Großbritanniens aus der EU auch am politischen Schicksal der Premierministerin.
Um 20.00 Uhr soll das Misstrauensvotum starten. Getan hat sich aber bereits einiges im Unterhaus. Labour-Chef Corbyn sprach etwa von einer "Zombie Regierung". Sie habe "das Vertrauen und die Unterstützung" des Parlaments verloren, sagte der Chef der Labour-Partei am Mittwoch im Unterhaus. May solle daher ihr Amt niederlegen.
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Wie stehen Mays Chancen?
Zweieinhalb Jahre nach dem Brexit-Referendum steht May vor den Scherben ihrer Politik. Nur 202 Abgeordnete stimmten für ihren Deal mit der Europäischen Union, 432 stimmten dagegen, darunter 118 Abgeordnete aus ihren eigenen, also aus den Reihen der Tories. Dennoch dürfte das heutige Misstrauensvotum nicht der letzte Akt sein.
Und das hat im Prinzip zwei Gründe. Zum einen wird auch der Koalitionspartner von der DUP diesmal nicht gegen May stimmen. Neuwahlen wären auch für den Partner aus Nordirland eine wenig verlockende Aussicht. Und zum anderen würden die Tories nie zulassen, dass Corbyn bestimmt, wann May zurücktritt. Davon ist jedenfalls die britische Politikwissenschaftlerin Melanie Sully überzeugt. Da geht es also auch ein bisschen um Stolz. Wenn May also schon gestürzt wird, dann eher von ihren eigenen Leuten.
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Zu den Regeln
Bevor es los geht hier noch kurz eine Erklärung zu den Regeln: Ein Misstrauensvotum im britischen Unterhaus ist einer von zwei Wegen, um vorzeitig eine Neuwahl auszulösen. Ein Nachfolger für den Regierungschef muss dabei noch nicht bestimmt werden.
Verliert die Regierung die Vertrauensabstimmung, muss innerhalb von zwei Wochen eine neue Regierung gebildet werden oder das Vertrauen erneut hergestellt werden. Beides muss durch eine Abstimmung nachgewiesen werden. Gelingt das nicht, gibt es eine Neuwahl.
Der andere Weg zu einer Neuwahl ist der Beschluss einer Zweidrittelmehrheit des Unterhauses. So erreichte Premierministerin Theresa May im Juni 2017 eine Neuwahl.
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Highlights von gestern
An dieser Stelle noch eine kurze, knackige Zusammenfassung der gestrigen Debatte:
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"Dead like a Dodo"
Und noch ein überraschend amüsanter Einwurf: So haben die britischen Medien auf Mays Schlappe reagiert:
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"Brexit: Ein gutes Votum"
Das gestrige Votum war übrigens ein gutes, schreibt Außenpolitik-Chef Andreas Schwarz in seinem heutigen Kommentar. Denn: "Hätte das Unterhaus den Deal abgesegnet, wäre der Unfug Brexitunvermeidbar auf Schiene (obwohl: was heißt bei den Briten schon „auf Schiene“?). So aber bleibt neben dem Hard Brexit, der jetzt von allen heraufbeschworen wird, also dem britischen Austritt ohne Vertrag, noch eine ander Option: die einer neuen Volksabstimmung über einen EU-Austritt." Hier lesen Sie den gesamten Kommentar.
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Und wie haben Europas Regierungschefs heute auf das Votum reagiert? Unbeeindruckt, um es positiv zu formulieren. Den Brexit-Deal will nämlich keiner neu verhandeln...
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"Reisen nach Großbritannien mit Vorsicht planen"
Während die Stimmung im Unterhaus noch einigermaßen gelassen ist, bereitet sich der Rest Europas schon auf einen harten Brexit vor. Was dieser zum Beispiel für Reisende aus Österreich bedeuten könnte, darüber informierte heute das Verkehrsministerium.
Obwohl eine EU-weite Regelung zur Aufrechterhaltung der Flugverbindungen zwischen den verbleibenden 27 EU-Staaten und dem Vereinigten Königreich geplant sei, könne es dennoch zu Flugausfällen kommen, hieß es in einer Aussendung des Ministeriums. Reisen nach Großbritannien ab dem 30. März 2019 seien daher mit Vorsicht zu planen. Reisende sollten "bei Buchungen darauf achten, ob in den Vertragsbestimmungen Klauseln enthalten sind, die einen Ausfall der Reise bei einem Austritt UKs ohne Abkommen vorsehen".
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Briten in Finnland müssen sich registrieren lassen
Die finnische Regierung hat britische Bürger im Land indes dazu aufgefordert, sich angesichts der wachsenden Sorgen vor einem chaotischen Brexit schnellstmöglich bei der Einwanderungsbehörde zu registrieren. Sollte es einen Brexit ohne geregeltes Abkommen geben, würden in Finnland lebende Briten zu Bürgern eines Drittstaates, erklärte das Innenministerium in Helsinki. Entscheidend sei, dass alle der rund 5000 Briten im Land selbst im Fall eines britischen EU-Austritts ohne Abkommen weiter in Finnland leben könnten. In Finnland muss man sich bei der Einwanderungsbehörde registrieren, wenn man länger als drei Monate im Land ist - unabhängig davon, woher man kommt.
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Vor Misstrauensvotum wird über Tür-Briefschlitze diskutiert
Auch wichtig, offenbar: Vor dem Misstrauensvotum gegen Premierministerin Theresa May befassen sich die Parlamentarier mit der Höhe von Briefschlitzen in Eingangstüren (übrigens handelt es sich dabei um die Mindesthöhe, die die EU vorschreibt).
Die konservative Abgeordnete Vicky Ford, die den Antrag im Unterhaus eingebracht hatte, sagte, es gebe "große Unterstützung" für ihren Gesetzesentwurf zur Änderung der Türbauvorschriften. Es sei auch eine Frage der "Gesundheit und Sicherheit" für Postboten. Das ständige Bücken führe nicht nur zu Rückenschmerzen, sondern erzeuge auch Stress. Und: "Nicht alle europäischen Standards sind schlecht."
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Die Rituale im Unterhaus
Und weil's so schön speziell ist: Hier noch einmal unser Video zu den eigenartigen Ritualen im britischen Unterhaus.
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Deutscher Wirtschaftsminister für "Denkpause"
Der deutsche Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) hat sich nach dem Scheitern des Brexit-Abkommens im britischen Parlament für eine "Denkpause" ausgesprochen. Ein ungeordneter Brexit müsse verhindert werden, sagte Altmaier am Mittwoch der Deutschen Presse-Agentur. "Der würde Arbeitsplätze kosten, besonders in Großbritannien, aber auch im übrigen Europa."
Es müsse jetzt besprochen werden, wie es weitergehe, sagte Altmaier. "Ich sehe mit dem gestrigen Ergebnis die Chance für eine Denkpause, die dazu führen kann, dass man auch in Gesprächen zwischen der Europäischen Union und Großbritannien vernünftige Lösungen findet. Aber dazu müssen wir abwarten, bis die britische Politik ihre Position gefunden hat."
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Schottische Regierungschefin will zweites Referendum
Die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon hat nach der Ablehnung des Brexit-Vertrags im britischen Parlament eine neue Volksabstimmung über den EU-Austritt gefordert. "Ein zweites Referendum ist die einzige Möglichkeit, dass Schottland als Teil des Vereinigen Königreichs in Europa bleibt", sagte Sturgeon der "Bild"-Zeitung (Donnerstag).
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Für den französischen Präsidenten Emmanuel Macron stehen bei einem No Deal die großen Verlierer eideutig fest: die britischen Bürger.
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Brexiteers in Partylaune
Jacob Mees-Mogg, einer der Brexiteers aus der ultrakonservativen Ecke, hat gestern nach der krachenden Niederlage Theresa Mays die Champagnerkorken knallen lassen: Laut "Guardian" hat er zwei Stunden nach der historischen Abstimmung eine Party geschmissen - mit dabei: Ex-Außenminister Boris Johnson und Ex-Brexit-Minister Davis Davis.
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Platzmangel im Unterhaus
Ein wenig nutzloses Wissen zwischendurch: Im britischen Unterhaus gibt es nicht genügend Sitzplätze für die Abgeordneten, nur zwei Drittel können tatsächlich Platz nehmen. Alle, die zu spät kommen, müssen im Eingangsbereich warten - und stehend die Debatten mitverfolgen.
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Berichte über Verschiebung...
Der Schlauere gibt nach...? Vielleicht. Die EU ist einem Bericht der Zeitung "Times" zufolge bereit, den Brexit bis 2020 zu verschieben. EU-Diplomaten bereiteten entsprechende Pläne vor und seien bereit, die Verhandlungen länger zu führen, berichtet die Zeitung unter Berufung auf Informanten.
Eine Bestätigung aus Brüssel gab es dabei aber nicht. EU-weit haben sich heute Regierungschefs unisono dagegen ausgesprochen, den Deal neu zu verhandeln. Eine Verschiebung des Brexit erscheint aber durchaus möglich. Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) würde den Briten - wenn nötig - Zeit lassen, damit es nicht zu einem übereilten EU-Ausstieg kommt. Ähnlich äußerte sich heute auch die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel.
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Nur um sicher zu gehen - die Brexit Box
Während die schmutzige Scheidung Großbritanniens und der EU noch lange nicht über die Bühne ist, widmen sich einige Briten schon ganz pragmatischen Vorbereitungen für die Zeit danach. Eine Firma aus Leeds bietet seit vergangenem Monat sogenannte Brexit Boxes an - und wurde laut der BBC seitdem bereits mehr als 600 davon los.
Für stolze 295 britische Pfund (333 Euro) sind darin tiefgekühltes Essen und ein Wasserfilter verpackt; damit kann man dem Anbieter zufolge rund einen Monat überleben. "Diese "Brexit Box" ist ein großartiger Start, um die Sorgen über leere Regale in den Supermärkten hinter sich zu lassen", heißt es in der Produktbeschreibung.
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Debatte zu May
Die Debatte im Unterhaus ist inzwischen bei der causa prima angelangt. Von Labour-Abgeordneten gab's dabei - wenig überraschend - Rücktrittsaufforderungen in Richtung Theresa May. Abgeordnete der Tories verteidigten die Regierungschefin.
Der Brexit und die Verhandlungsführung dazu sind bislang aber kaum ein Thema. Es geht vielmehr um die generelle Arbeit der Regierung, um Arbeitslosenrate (4,0 %) und Wirtschaftswachstum (zuletzt eingebrochen - 1,2 %). Auch das ist eigentlich nicht weiter verwunderlich, ist Labour - und hier insbesondere Labour-Chef Corbyn - selbst doch komplett unentschlossen, was den Brexit betrifft. 71 Abgeordnete fordern inzwischen ein zweites Referendum, Corbyn selbst trat stets dafür ein, das erste Votum zu exekutieren.
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"Aus Pflichtbewusstsein"
Er habe keinen Zweifel daran, dass May aus Pflichtbewusstsein gegenüber ihrem Amt handelt. Das Problem ist nur: Sie ist gescheitert", sagt Labour-Vize Tom Watson in seiner Rede. "Und deshalb hätte sie gestern zurücktreten müssen."
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Umweltminister Michael Gove antwortet für die Tories: Im Gegenteil, es sei Jeremy Corbyn, der seine Partei nicht führen könne. Parlamentarischer Schlagabtausch eben. Man kennt das ja (wobei es wohl nirgendwo so speziell wie im britischen Unterhaus ist).
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"ORDER"
Wir nähern uns in großen Schritten der Abstimmung. Michael Gove ist der letzte Abgeordnete, der spricht. Gleich sollte es los gehen, während der Mr. Speaker das Unterhaus noch einmal zur "Order" ruft.
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Die Abgeordneten verlassen jetzt das Unterhaus - rechts gehen diejenigen raus, die für "Ja" gestimmt haben. "Links" die Nein-Sager. So einfach wird da durchgezählt. Und dann sollte es gleich ein Ergebnis geben.
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Entscheidung in rund 10 Minuten
May selbst hat nicht mehr im Unterhaus gesprochen. Vor Journalisten meinte sie aber kurz vor 20.00 Uhr noch einmal, Neuwahlen "wären das schlechteste, was wir tun können". Ein Ergebnis soll es in cirka zehn Minuten geben.
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May gewinnt knapp
Knapp hat May die Abstimmung gewonnen.
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Alles weitere am Montag...
May kommt gleich zur Sache: Noch heute Nacht soll es eine Reihe von Meetings mit allen Parteichefs geben, kündigt die Premierministerin an. Am Montag will May dann einen neuen Fahrplan vorlegen.
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306 zu 325
Gegen die Regierung votierten 306 Abgeordnete - für May stimmten 325.
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Und damit ist die Debatte auch schon beendet. May hielt sich kurz und knapp - das Gesprächsangebot an die anderen Parteien steht. Wir dürfen nun also bis Montag gespannt sein, wie May doch noch für einen geordneten Brexit sorgen will.
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Wir verabschieden uns damit an dieser Stelle. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. Eine ausführliche Zusammenfassung dieses doch recht bewegten Tages - und einen Ausblick, was in den kommenden Tagen noch zu erwarten ist, lesen Sie in Kürze auf Kurier.at
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