Seit zwei Wochen ist es jeden Tag dieselbe Choreografie: Am Lenin-Platz in Chabarowsk, Russlands äußerstem Osten, versammeln sich Menschen und schimpfen auf Moskau. Man sieht Junge wie Alte, Kinder sind dabei, alle sind friedlich.
Was vor zwei Wochen als kleiner Protest 6000 Kilometer entfernt von der Hauptstadt begann, hat sich zu einer richtigen Unannehmlichkeit für den Kreml entwickelt. Sergej Furgal, Gouverneur von Russlands östlichster Region, war wegen der angeblichen Verwicklung in Morde vor 15 Jahren verhaftet worden. Das ist an sich ein üblicher Vorgang bei Politikern, die dem Kreml zu beliebt oder gefährlich werden. Furgal war beides: Der Liberaldemokrat, Vertreter der geduldeten Opposition, schlug 2018 nicht nur Putins Kandidat, obwohl er als Zählkandidat nicht mal einen Slogan hatte. Er - selbst mit einer etwas zwielichtigen Vergangenheit ausgestattet - erarbeitete sich seither auch den Ruf eines menschennahen Anti-Korruptions-Politikers, in einer mafiösen, wirtschaftlich schwachen Region, die sich vom Kreml vergessen fühlt.
50.000 auf der Straße
Genau diese Gemengelage ist es, die die Proteste so explosiv macht. Erstmals seit 2012, als Wladimir Putin aufkeimende Ressentiments gegen ihn blutig niederschlagen ließ, regt sich im Land wieder großer Protest – und der Kreml schaut zu: 50.000 Menschen gingen zuletzt auf die Straße, und das in einer Stadt mit 600.000-Einwohnern. „Das ist, als ob eine Million Menschen in Moskau auf die Straße ginge“, sagt Kirill Shamiev, der in Chabarowsk aufgewachsen ist und jetzt als Politologe an der CEU in Wien forscht. Darum gehe die Polizei auch nicht gegen die Demonstranten vor: „Man kann nicht zehn Prozent der Bevölkerung auf einmal mundtot machen.“
Dass der Kreml – noch – nicht mit Gewalt auf die Anti-Putin-Rufe reagiert hat, ist tatsächlich überraschend. Denn seit der russische Präsident sein Referendum zur Amtsverlängerung durchgepeitscht hat – begleitet von Vorwürfen der Wahlfälschung –, häufen sich die Repressionen in Russland massiv. Journalisten wurden inhaftiert, Putin-Kritiker werden gefilzt, und erst am Mittwoch wurde der anerkannte Gulag-Historiker und Aktivist Jurij Dmitrijew ins Gefängnis verfrachtet.
Woran die Zurückhaltung des Kreml in Chabarowsk liegt? Für die kreml-kritische unabhängige Novaja Gazeta zeigt das, dass nicht nur Putins Beliebtheit sinkt, sondern dass seine „Maschinerie langsam kaputt wird“ – seine „Vertikale der Macht“, also das dubios-repressive Kommandosystem des Kreml, funktioniere nicht mehr. Furgals Fall ist ja kein Einzelfall: Schon 82 Prozent aller russischen Bürgermeister und Gouverneure wurden während ihrer Amtszeit angeklagt; bisher war das nur keine große Aufregung wert.
Auch, dass sonst kremlfreundliche Zeitungen über die Proteste schreiben, ist ungewöhnlich. Zwar sieht man im Staats-TV nichts von den Menschenmassen, aber selbst das sonst eher brave Boulevardblatt Komsomolskaja Prawda schreibt von einem „historischen Wendepunkt“.
Weitet sich der Protest aus?
Natürlich, Chabarowsk ist nicht Moskau. In der Hauptstadt wurden kürzlich alle kleinen Proteste polizeilich aufgelöst. Für den Politologen Shamiev könnte es dennoch zu einer Ausweitung kommen: „Kommt es in einer anderen Region zu einer ähnlichen Krise oder reagiert Moskau über und schlägt die friedlichen Proteste nieder, schwappen die Proteste ziemlich sicher auf andere Landesteile über.“
Dann bleibt abzuwarten, wie der Kreml reagiert – und wie rissig das System Putin wirklich ist.
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