Massengräber? Enormer Anstieg der Corona-Infektionen in Türkei
Bereitet sich die Türkei wegen der Corona-Krise auf das Schlimmste vor? Auf Social Media kursieren seit 28. März Videos von frisch ausgehobenen Massengräbern. Sie dürften in der südöstlichen Stadt Ganziantep liegen, beim Yeşilkent-Friedhof. Rechnet die Gegend mit einem Massensterben, ausgelöst durch Covid-19?
Ganzianteps regionales Gouverneurs-Büro widerspricht dieser Darstellung: "In unserer Provinz, in der über zwei Millionen Menschen leben, sterben etwa 15 Bürger pro Tag aus verschiedenen Gründen. Die ausgebaggerten Gräber in den Bildern sind nicht für Coronavirus-Fälle gedacht." Vielmehr würden die Gräber für Menschen ausgehoben, deren Familien sich keine reguläre Bestattung leisten können – "damit nicht negativ über ihre Armut berichtet wird".
Ob glaubwürdig oder nicht: Ähnliche Bilder kennt man bereits aus dem Iran, wo der Ausbruch des Coronavirus anfangs massiv unterschätzt wurde. Bereits Mitte März war die Aushebung von Massengräbern im Iran alternativlos.
Der Türkei könnte ein ähnliches Schicksal drohen: Die Infektionskurve zeigt steil nach oben. Die Zahl der Infizierten hat sich innerhalb einer Woche versiebenfacht. Laut der John Hopkins University gibt es in der Türkei offiziell 15.679 Infektionsfälle – damit liegt die Türkei weltweit auf dem zehnten Platz. 277 Menschen sind bisher an Covid-19 gestorben.
Kritik an laschen Maßnahmen
Diese offiziellen Behördenangaben greifen wohl zu kurz: In der Türkei wurden erst knapp über 90.000 Tests durchgeführt. Es sei zudem fraglich, ob die offiziellen Zahlen "realistisch sind", sagte Alpay Azap, Professor für Infektionskrankheiten an der Universität Ankara, der WELT. Oft würden die ersten Tests negativ verlaufen. Azap geht vielmehr von aktuell "mindestens 100.000 Erkrankten" in der Türkei aus - also dem Zehnfachen.
Ärzte und Krankenpfleger in der Türkei läuten bereits die Alarmglocke: Es sei kaum Schutzausrüstung vorhanden, zudem leidet das Gesundheitssystem unter einem massiven Personalmangel. Das Gesundheitsministerium will deshalb kurzfristig 32.000 neue Mitarbeiter einstellen. In welchen Bereichen, ist derweil offen.
Was Präventionsmaßnahmen betrifft, hat die Türkei grundsätzlich rasch reagiert, bereits Ende Februar internationale Flüge gestrichen (etwa aus dem Iran) und öffentliche Einrichtungen geschlossen. Schulen, Universitäten, Parks, Geschäfte und Restaurants haben größtenteils zu. Wer eine Stadt verlassen will, benötigt eine Sondergenehmigung. Und: Für Menschen über 65 Jahre gilt eine Ausgangssperre. Wer jünger ist, soll sich freiwillig selbst isolieren.
Mit den Maßnahmen in Zentraleuropa ist das nicht vergleichbar. "Die Türkei hat bis heute keine strikte Quarantäne verhängt. Die Mehrheit der Bevölkerung kann sich immer noch frei bewegen", sagt Genetiker Caghan Kizil von der TU Dresden gegenüber der Deutschen Welle.
Istanbuls Bürgermeister Ekrem Imamoglu schlägt Alarm: "Istanbul ist einer der am dichtesten besiedelten Orte der Welt. Die Verbreitungsgeschwindigkeit ist sehr schnell. Daher sollte ein Ausgangsverbot beschlossen werden. Wenn wir jetzt nicht mutig sind, kann es morgen schon zu spät sein."
Kein staatliches Hilfspaket
Präsident Recep Tayyip Erdoğan ist anderer Meinung. Die Türkei müsse die wirtschaftliche Produktion aufrechterhalten – "was auch immer geschehe", meinte er am Montag. Ein staatliches Hilfspaket lehnte er bisher ab und rief stattdessen zu einer "Kampagne der nationalen Solidarität" auf.
Heißt: Bürger sollen Geld spenden um Mitbürger, die etwa ihren Arbeitsplatz aufgrund der Corona-Auswirkungen verloren haben, zu retten. Erdoğan verkündete bereits, dass er die kommenden sieben Monate seinen eigenen Lohn von offiziell 9.000 Euro spenden möchte. Eventuell sogar mehr: Böse Zungen behaupten, dass der Präsident etwaige Nebeneinkünfte bezieht.
Verbrieft ist: Die türkische Wirtschaft kriselt schon seit Sommer 2018, die Inflationsrate der Türkischen Lira lag teilweise bei 25 Prozent.
Was eher wenig Mut gibt: Laut Medienberichten findet an der eigentlich geschlossenen Grenze zum Iran reger Schwarzhandel statt, allen voran Menschenschmuggel. "Es ist aktuell einfacher einen Flüchtling aus dem Iran in die Türkei zu bringen als einen Teppich", zitierte die WELT einen Diplomaten.
Kommentare