Fast ein Jahr Krieg in Gaza: "Die Situation ist so schlecht wie nie"
Martin Frick, Direktor des World Food Programmes, über bald ein Jahr Krieg in Gaza, den Hunger im Sudan und warum es an allen Ecken und Enden an Spenden fehlt.
Heute in zwei Wochen jährt sich der Hamas-Angriff auf Israel, die Kämpfe dauern an. Die Lage im Gazastreifen ist nach wie vor extrem angespannt - auch, weil Hilfstransporte aufgrund von Blockaden nicht immer über die Grenzübertritte können. "Wir brauchen dringend besseren Zugang", fordert auch Martin Frick, Direktor des UN-Welternährungsprogrammes (WFP).
KURIER: Herr Frick, wie steht es nach fast einem Jahr Krieg um die Nahrungsmittelversorgung im Gazastreifen?
Martin Frick: Katastrophal. Wir haben lange vor einer Hungersnot im Norden gewarnt. Da hat die Lage sich jetzt zwar etwas entspannt, wir kommen rein und können sogar Hilfslieferungen über den Hafen Aschdod in den Norden des Gazastreifens bringen. Dafür machen wir uns jetzt größte Sorgen um den Süden, weil die Übergänge dort geschlossen sind bzw. nicht funktionieren.
Allgemein könnte sich die Situation bald verschlechtern: In ein paar Wochen beginnt der Winter, über 70 Prozent der Gebäude sind aber mittlerweile zerstört. Viele Familien werden also in Zelten übernachten müssen, zum Teil bei Minusgraden und Dauerregen. Das wird extrem hart. Und: Die Straßen sind in sehr schlechtem Zustand. Wenn das so bleibt und der Regen einsetzt, drohen unsere Hilfstransporter buchstäblich im Dreck stecken zu bleiben.
Welche Herausforderungen machen dem WFP hier am meisten zu schaffen?
Die vielen Evakuierungsbefehle der israelischen Armee, die meist mit nur ein paar Stunden Vorlaufzeit kommen: Gerade haben wir unser drittes und letztes Lagerhaus in Gaza verloren, weil es in einem neuen Evakuierungsgebiet steht. 86 Prozent des Gazastreifens ist Evakuierungsgebiet, sicher ist es aber nirgendwo, wie Angriffe in Schutzzonen zeigen. Neun von zehn Palästinensern wurden vertrieben, manche schon zum dritten, vierten, fünften Mal. Wenn so ein Befehl kommt, müssen wir unsere Suppenküchen, Bäckereien usw. wieder neu aufbauen.
Dazu kommt, dass die Sicherheitslage nach wie vor sehr angespannt ist. Ende August ist eines unserer - deutlich gekennzeichneten und bei den Sicherheitsbehörden angekündigten - Fahrzeuge direkt beschossen worden. Zum Glück war es gepanzert. Gerade erst sind wieder sechs UN-Kollegen bei einem Luftschlag auf eine Schule getötet worden. Insgesamt sind in diesem Konflikt, in dem mittlerweile über 40.000 Menschen gestorben sind, bereits 300 humanitäre Helfer ums Leben gekommen - das hat es in dieser Dimension seit dem 2. Weltkrieg nicht gegeben.
Mehrere UN-Experten werfen Israel vor, bewusst eine Hungersnot im Gazastreifen herbeizuführen. Was sagen Sie dazu?
Das ist ein extrem schwerer Vorwurf, der juristisch bewertet werden muss. Wir können Hilfslieferungen in den Gazastreifen bringen, aber es ist wirklich schwierig. Und es wird auch nicht selten verzögert bzw. verhindert, dass wir schnell über die Grenze oder durch Checkpoints kommen. Wir brauchen dringend besseren Zugang. Das humanitäre Völkerrecht gilt für alle, immer und überall.
Im Sudan herrscht seit 2023 ebenfalls wieder Krieg, das WFP hat seine Hilfe dort erst kürzlich ausgeweitet. Wie sieht es hier mit der Versorgung aus?
Nach ungefähr 500 Tagen Krieg ist die Hälfte der Bevölkerung im Sudan von Hunger betroffen - 25,6 Millionen Menschen, eine riesige Zahl. Der Zugang ist hier aufgrund des Regens sehr herausfordernd, obwohl wenigstens der Grenzübergang Adré im Südwesten gerade geöffnet ist (an der Grenze zum Tschad, Anm.). Zwar haben wir zuletzt dutzende LKWs über die Grenze bekommen, aber wegen der Überschwemmungen sind viele Straßen und Wege unpassierbar.
Damit wir tatsächlich von einer „Hungersnot“ sprechen, müssen viele Voraussetzungen erfüllt sein. Das ist sozusagen die allerhöchste Eskalationsstufe. Im Flüchtlingslager Samsam im Sudan sprechen wir offiziell aber tatsächlich von einer - zum ersten Mal seit 2017 und überhaupt erst zum dritten Mal. Die Menschen dort verhungern also bereits. Zusätzlich gibt es bestimmte Gebiete, in denen mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit ebenfalls bereits eine Hungersnot herrscht, zu denen wir aber keinen Zugang haben.
Das WFP hat, anders als andere UN-Organisationen, kein Kernbudget und finanziert sich durch freiwillige Gelder von Regierungen, Unternehmen und Privatpersonen. Wie steht es um diese Zuwendungen?
Unsere Situation ist so schlecht wie noch nie. Wir haben eine Finanzierungslücke von 60 Prozent. Allein für Gaza brauchen wir bis Jahresende 170 Millionen Dollar, aber wir müssen ja auch für zig andere Operationen Geld einwerben. Mehr als 300 Millionen Menschen in 71 Ländern sind derzeit von Nahrungsunsicherheit betroffen.
Warum ist die Finanzierung derart schwierig geworden?
Weil wir als Weltgemeinschaft überfordert sind. Es gibt so viele Kriege, gleichzeitig haben wir uns weder vom andauernden Krieg in der Ukraine noch von der Corona-Pandemie erholt und erleben eine Nahrungsmittelpreiskrise, die ebenfalls zu Hunger führt. Auch der Klimawandel ist in unseren Operationen immer deutlicher zu spüren, etwa in Form von Fehlernten.
Sie sind als WFP-Direktor u.a. für Deutschland und Österreich zuständig. Wie sieht es da mit der Zusammenarbeit aus?
Aus Deutschland haben wir lange sehr viel Geld bekommen, 2022 waren es 1,7 Milliarden Euro. Aufgrund der Haushaltskrise wird bei der humanitären Hilfe jetzt aber massiv gekürzt, da kämpfen wir gerade. Österreich ist für uns eine Erfolgsgeschichte. Wir bekommen Geld aus dem Auslandskatastrophenfond, von der ADA, aus dem Landwirtschaftsministerium.
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