Die Nikola Teslas des Kosovo suchen ihre Zukunft

Mitten in Pristina findet man ein altes, vergilbtes Notizbuch in einer Vitrine, darin die Zeichnung eines jungen Mädchens. Man erkennt Autos, Berge, einen Fluss und Bäume. Nur die Sonne fehlt in dem Landschaftsbild. Es ist eine Zeichnung von Besarta Jashari, die gerade mal zehn Jahre alt war, als ihre komplette Familie von serbischen Polizeikräften getötet wurde. Sie überlebt als Einzige. Das Massaker im März 1998 gilt heute für viele als Auslöser für den Kosovo-Krieg.
Die Journalistin Donika Shahini Lami war es, die das Notizheft aus den Überresten des Hauses der heute bekannten Familie Jashari mitgehen ließ, als sie als Übersetzerin für japanische Journalisten den Tatort besuchte. "Wir haben persönliche Gegenstände mitgenommen, um die Identität der Toten feststellen zu können. Und um kleine Stücke Menschlichkeit für die Nachwelt zu erhalten", erzählt sie in der Ausstellung des Journalistenkollektivs BIRN. Einer jungen Kosovarin kommen bei den Worten die Tränen.
Traumata und Alltagsprobleme
Der blutige, ethnische Konflikt zwischen Serben und Kosovo-Albanern, er steckt in Familiengeschichten und dominiert mal mehr, mal weniger sichtbar den Alltag im jüngsten Land Europas – auch wenn die Menschen tagtäglich ganz andere Sorgen haben: kein funktionierendes Abwassersystem, kein trinkbares Leitungswasser in vielen Teilen des Landes, von Müll verschmutzte Landschaften, ein unterfinanziertes Gesundheits- und Bildungssystem. Themen, die eigentlich auch die Lokalwahlen am Sonntag entscheiden sollten.

Donika Shahini Lami mit dem Notizbuch von Besarta Jashari.
Doch viele Parteien machen lieber mit Ethno-Nationalismus politisches Kleingeld anstatt zu versuchen, diese Probleme zu lösen. Die Srpska Lista im serbischen Norden des Landes mobilisiert mit der Umbenennung von Straßennamen; "die Regierung beschwört lieber den serbischen Feind im Norden", so der Vorwurf eines oppositionellen Parlamentariers.
Wenig erfolgreich ohne Diaspora
Die Wahlen sind ein Stimmungstest für die linkspopulistische "Lëvizja Vetëvendosje!" von Ministerpräsident Albin Kurti. Er hat bei den Parlamentswahlen im Februar nach vier Jahren die Absolute verloren, sucht seitdem nach Koalitionspartnern. Die Wahlbeteiligung der Diaspora fällt bei Lokalwahlen deutlich geringer aus; ohne deren Stimmen ist Kurti wenig erfolgreich: 2021 triumphierten die Mitte-Rechts-Parteien PDK und LDK, die nach der Unabhängigkeit regierten; die PDK entstand aus der paramilitärischen Unabhängigkeitsarmee UÇK. Kurtis LVV holte bei den Wahlen vor vier Jahren lediglich vier von 38 Bürgermeisterämtern. Die Wahlbeteiligung lag 2021 bei 37,8 Prozent. Diesmal könnte sie noch niedriger sein.
Bei den Lokalwahlen am Sonntag wird vor allem auf die Wahlbeteiligung im serbisch dominierten Norden des Landes geschaut werden: Die letzten Wahlen wurden boykottiert, die serbischen Bürgermeister waren auf Geheiß Belgrads und aus Protest gegen die Nicht-Umsetzung von Minderheitenrechte zurückgetreten. Daraufhin setzte Premier Kurti ethnische Albaner als Bürgermeister ein, was gewaltsame Zusammenstöße und das Einfrieren von EU-Millionen für den Kosovo zur Folge hatte.
Für Ognen, Danilo und Milos, drei 17-jährige Burschen aus Leposavić im serbisch bewohnten Norden des Kosovo, ist eines der dringendsten Probleme die wiederkehrenden Stromausfälle. Kein Strom bedeutet kein Internet. Der Norden des Landes hat weder für Pristina noch Belgrad Priorität; halbherzig finanziert Serbien Schulen, Gesundheitssystem und Infrastruktur, die die kosovarische Regierung versucht, abzudrehen.
Die Jugendlichen haben deswegen mithilfe von UNICEF und der Österreichischen Agentur für Entwicklungszusammenarbeit, kurz ADA, eine Sitzbank vor ihrer Schule mit einer WLAN-Station ausgestattet, der Strom kommt von Solarpanelen. "In manchen Häusern hier am Land gibt es gar keinen Strom. Hier soll jeder herkommen und das Internet nutzen können", erklärt Danilo. UNICEF und die ADA fördern Projekte, die der lokalen Gemeinschaft zugute kommen und die Jugend beschäftigen. Hinter Danilo leuchtet ein buntes Graffiti des – hier eindeutig als Serbe reklamierten – Erfinders Nikola Tesla vom Schulgebäude.

Milos, Danilo und Ognen.
Rund 1,6 Millionen Menschen, überwiegend ethnische Albaner, leben in der einst serbischen Provinz, die halb so groß wie Niederösterreich ist. 800.000 Kosovaren leben in der Diaspora, rund 70.000 in Österreich; die meisten in der Schweiz, Deutschland und den USA. Nach dem Kosovo-Krieg 1999 erklärte der Kosovo am 17. Februar 2008 seine Unabhängigkeit. Serbien erkennt diese nicht an, genauso wenig wie China und Russland, zwei Veto-Mächte im UN-Sicherheitsrat, und die EU-Länder Griechenland, Rumänien, die Slowakei, Spanien und Zypern.
Jugend ist die Zukunft
Andere Probleme teilt die Jugend im Kosovo mit Gleichaltrigen in Österreich: Die 15-jährige Simona aus der serbisch-albanisch geteilten Stadt Mitrovica beschwert sich darüber, dass für Parkplätze am Schulgelände Bäume gefällt wurden – und hat deswegen mit UNICEF neue gepflanzt: "Mitrovica ist laut Ranking die dreckigste Stadt im Kosovo, die Luftverschmutzung ist extrem. Aber niemanden kümmert das", erklärt sie vehement. Mila ist 14 Jahre alt, ändern würde sie gern einiges: das traditionelle Frauenbild, dass ihre Schulkollegen haben. Dass sich nicht alle Schülerinnen und Schüler die Unterrichtsmaterialien leisten können. Dass es keine kostenlosen Menstruationsprodukte auf den Schultoiletten gibt.
Wahlberechtigt sind Danilo, Simona und Mila nicht – noch nicht. Doch sie sind die künftige Wählerschaft, der Kosovo hat mit einem Durchschnittsalter von 31 Jahren die jüngste Bevölkerung Europas. Viele junge Menschen fühlen sich von der Politik nicht gehört, über ein Drittel der Jungen sind weder in Ausbildung noch haben sie einen Job. Dieser NEET-Wert ("Not in Education, Employment or Training") ist der höchste unter allen Westbalkanländern. Die Jungen wählen deswegen mit ihren Füßen: 2022 verließen über 41.000 Menschen den Kosovo, seit 2012 waren es mehr als 15 Prozent der Bevölkerung.

Die 14-jährige Mila (3.v.r.) und ihre Schulkolleginnen.
Seit 1999 ist der Kosovo Schwerpunktland der österreichischen Entwicklungszusammenarbeit. 2024 gingen 9,31 Millionen Euro an öffentlichen Geldern an Entwicklungszusammenarbeit im Kosovo. Zwischen 2008 und 2024 waren es 162,6 Millionen Euro. 2024 steuert die ADA, Österreichs Agentur für Entwicklungszusammenarbeit, 4,3 Millionen Euro bei.
Mila will wie viele ihrer Schulkolleginnen Ärztin werden, am liebsten im Ausland. Auch Danilo möchte studieren, IT-Wissenschaften – in Slowenien.
Dabei hätten sie im Kosovo eine weitaus glänzendere Zukunft vor sich als in Westeuropa, ist sich der Direktor der Universität Pristina, Arben Hajrullahu, sicher: "Hier können sie ein System mitgestalten, nicht nur aufrechterhalten." Hajrullahu hat in Wien und Graz studiert, als die Kosovo-Albaner in den 90er-Jahren unter dem Regime von Slobodan Milošević von Universitäten ausgeschlossen waren. Das Problem seien weniger die besseren Gehaltsaussichten im Ausland als die politische Instabilität und unsichere Zukunft des Kosovos: "Du musst der Bevölkerung etwas bieten, damit sie bleibt."
Besarta Jashari, deren Notizbuch nach wie vor an die schmerzhafte Vergangenheit des Kosovo erinnert, ist heute 35 Jahre alt und lebt mit ihrer Familie in Pristina. Öffentliche Auftritte meidet sie, auf den Straßen wird sie trotzdem erkannt – doch nur von der älteren Generation, die junge interessiert sie nicht mehr.
Hinweis: Die Reise wurde zum Teil von der ADA finanziert.
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