Ein Jahr nach der Flutkatastrophe in Libyen: "Fast jeder hat hier ein Familienmitglied verloren"
Zwei Dammbrüche sorgten in Darna vor einem Jahr für eine Tragödie - zusätzlich zum Bürgerkrieg. 5900 Menschen kamen ums Leben, viele mussten flüchten. Die Schäden sind bis heute kaum behoben.
26.08.24, 05:30
von Florian Mühleder
Mohamed Elasibai hat als humanitärer Helfer schon einiges gesehen und erlebt. Was er nach den Ereignissen am 11. September 2023 in Darna sah, beschreibt er allerdings als die schlimmsten Erlebnisse seines Lebens. "Es ist sehr schwierig, heutzutage eine vollständige 'normale' Familie zu finden, also Mutter, Vater und Kinder“, sagt Elasibai. "Viele haben zumindest ein Familienmitglied in der Katastrophe verloren. Einige Kinder haben beide Elternteile in den Überschwemmungen verloren."
Elasibai, stellvertretender Länderdirektor Libyens für CARE, den Verein für Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe,half bei der Flutkatastrophe und berichtet über die heutige Lage in Darna.
Im September 2023 fegte der tropenähnliche Wirbelsturm Daniel über den Mittelmeerraum hinweg. Das nordafrikanische Land Libyen, in dem seit dem Sturz Muammar Gaddafis 2011 ein Bürgerkrieg tobt, traf es mit Abstand am schlimmsten. Das Wetterextrem brachte in Darna, einer Stadt im Nordosten des Landes, zwei Dämme zum Einbruch.
Zusätzlich zum flutartigen Regen überschwemmten die durch die Dammbrüche freigesetzten gigantischen Wassermengen die gesamte Stadt.
Am Abend des 10. Septembers füllten sich der Derna-Damm und der Abu-Mansour-Damm durch die starken Regenfälle und gingen nach fünf Stunden über. In der Nacht auf den 11. September brachen sie schließlich völlig durch.
CARE zählt 5900 Tote, über 8.000 Menschen werden noch immer vermisst. Die Ermittlung der exakten Opferzahl gestaltete sich schwierig. Viele Menschen wurden von den 30 Millionen-Kubikmeter-Wassermassen ins Meer gespült. 250.000 Menschen waren von der Katastrophe betroffen.
Wiederaufbau zieht sich in die Länge
Das Stadtzentrum Dernas, der am dichtesten besiedelte Teil der Stadt, befindet sich in einem Tal. Die Wassermassen flossen von den 19 und 29 Kilometerentfernten Dämmen das Wadi-Tal entlang direkt ins Zentrum der Stadt. 40.000 Menschen mussten umgesiedelt werden.
Darna befindet sich nun im Wiederaufbau. Die Regierung von Armeechef Khalifa Haftar in Bengasi - sie regiert in Opposition zur von der UNO anerkannten Regierung in Tripolis - gründete dafür einen Fond zum Wiederaufbau. Viele zerstörte Gebäude sind jedoch noch nicht fertiggestellt, erklärt Elasibai. Anfänglich gab es mit der Auszahlung des Fonds große Schwierigkeiten, was die Arbeiten verzögerte.
Langsam sehe man mittlerweile Fortschritte. Sechs bis acht Brücken wurden wiedererrichtet. Schulen und ein Krankenhaus befinden sich noch im Wiederaufbau.
„Sie versuchen ihr Bestes. Man versucht, die wichtigste Infrastruktur wiederherzustellen“, sagt Elasibai. Die Regierung versprach zumindest, das Zentrum der Stadt wieder vollständig wiederaufzubauen.
Menschen, die ihre Häuser verloren hatten, bekamen über die staatlichen Fonds 9.000 bis 18.000 Euro ausgezahlt. Für viele reichte die staatliche Förderung allerdings bei Weitem nicht. Der Wohnungs- und Immobilienmarkt brach zusammen und die Preise stiegen in die Höhe.
Die Region um Darna war bisher stark von der Landwirtschaft geprägt. Der für Darna wichtige Bienenzuchtsektor musste verheerende Schäden einstecken. Auch die Fischerei ist betroffen, zahlreiche Fischer verloren ihre Lebensgrundlage.
Viele verließen Darna und versuchen sich mit den Entschädigungszahlungen woanders ein neues Lebenaufzubauen.
Psychologische Wunden am größten
Die Tragödie traf auch das Gesundheitssystem schwer. Als eines der größten Probleme beschreibt Elasibai die psychologischen Schäden der Menschen als Auswirkung der Katastrophe. "20.000 Menschen haben posttraumatische Belastungsstörungen von den Ereignissen davongetragen. Viele Kinder haben als Reaktion Angst vor Wasser.“
Auch das Bildungssystem hat immer noch stark zu kämpfen. Viele Schulen sind weiterhin zerstört oder befinden sich noch im Wiederaufbau. Einige Lehrer werden vermisst, andere haben die Stadt verlassen, so Elasibai.
Untätigkeit der Politik
Dass es überhaupt zur Katastrophe kam, ist vor allem ein Versagen der Politik. Durch langjähriges Missmanagement waren die Dämme stark einsturzgefährdet. Sie wurden bereits in den 1970er Jahren unter Langzeitherrscher Muammar Gaddafigebaut.
Bereits vor 26 Jahren wurde laut France 24 von Rissen an der Oberfläche der Dämme berichtet. Für die Wartung der Dämme wurde vor über zehn Jahren Geld bereitgestellt. Diese erfolgte jedoch nie.
Ein Jahr vor der Katastrophe warnten Forscher der Omar Al-Mukhtar-Universität eindringlich vor den Konsequenzen eines potenziellen Dammbruches. Laut der Libyen-ExpertinClaudia Gazzini von der NGO Crisis Group bestand zumindest einer der beiden gebrochenen Dämme aus Erde statt aus stabilem Zement.
Fehlerhafte Evakuierung
Wie die BBC berichtet, wurden in Darna im Zuge des Katastrophenmanagements von lokalen Behörden folgenreiche Fehlentscheidungen getroffen. Die meisten Menschen wurden dazu angehalten, zu Hause zu bleiben. Die wenigen gesetzten Maßnahmen wurden in den falschen Teilen der Stadt durchgeführt.
Viel zu wenige Menschen wurden durch Warnungen erreicht, außerdem mangelte es an ausreichenden Unterschlupfen für die Geflüchteten. Eine koordinierte Evakuierung hätte viele Leben retten können.
Einige Menschen, die aufgrund des steigenden Meeresspiegels von der Küste evakuiert wurden, seien in gefährlichere, später überflutete Gebiete gebracht worden. Ein Mann, der seine Frau und zwei seiner Kinder verlor, erzählte der BBC: “Viele derjenigen, die von den Stränden evakuiert wurden, gingen ins Zentrum von Darna, wo sie bei den späteren Überschwemmungen ums Leben kamen.“
Libyen ist seit dem Aufstand 2011, der Langzeitdiktator Muammar Gaddafi stürzte, ein politisch geteiltes Land. In Tripolis, im Westen des Landes, regiert die von der UNO anerkannte Regierung. Im Osten des Landes ist eine von Armee-Chef Khalifa Haftar unterstützte rivalisierende Regierung an der Macht.
Im Zuge der Verfehlungen der Haftar-Regierung wurden laut BBCzwölf Beamte zu Gefängnisstrafen zwischen neun und 17 Jahren verurteilt. Sie wurden aufgrund von Missmanagement im Zusammenhang mit der Finanzierung und der Instandhaltung der Dämme schuldig gesprochen.
Ob die Betroffenen dadurch das Gefühl hätten, ein Stück Gerechtigkeit errungen zu haben?
Elasibai hat seine Zweifel: „Viele Menschen sind noch immer unglücklich, denn egal was die Regierung macht, sie wird nie ihre Familienmitglieder zurückholen können.“
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