Ein Jahr nach der Flutkatastrophe in Libyen: "Fast jeder hat hier ein Familienmitglied verloren"

von Florian Mühleder
Mohamed Elasibai hat als humanitärer Helfer schon einiges gesehen und erlebt. Was er nach den Ereignissen am 11. September 2023 in Darna sah, beschreibt er allerdings als die schlimmsten Erlebnisse seines Lebens. "Es ist sehr schwierig, heutzutage eine vollständige 'normale' Familie zu finden, also Mutter, Vater und Kinder“, sagt Elasibai. "Viele haben zumindest ein Familienmitglied in der Katastrophe verloren. Einige Kinder haben beide Elternteile in den Überschwemmungen verloren."
Elasibai, stellvertretender Länderdirektor Libyens für CARE, den Verein für Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe, half bei der Flutkatastrophe und berichtet über die heutige Lage in Darna.

Ein Bild der Verwüstung: Das Stadtzentrum Darnas nach der Flut
Wirbelsturm und Dammbrüche trafen Stadt schwer
Im September 2023 fegte der tropenähnliche Wirbelsturm Daniel über den Mittelmeerraum hinweg. Das nordafrikanische Land Libyen, in dem seit dem Sturz Muammar Gaddafis 2011 ein Bürgerkrieg tobt, traf es mit Abstand am schlimmsten. Das Wetterextrem brachte in Darna, einer Stadt im Nordosten des Landes, zwei Dämme zum Einbruch.
Zusätzlich zum flutartigen Regen überschwemmten die durch die Dammbrüche freigesetzten gigantischen Wassermengen die gesamte Stadt.
Am Abend des 10. Septembers füllten sich der Derna-Damm und der Abu-Mansour-Damm durch die starken Regenfälle und gingen nach fünf Stunden über. In der Nacht auf den 11. September brachen sie schließlich völlig durch.
CARE zählt 5900 Tote, über 8.000 Menschen werden noch immer vermisst. Die Ermittlung der exakten Opferzahl gestaltete sich schwierig. Viele Menschen wurden von den 30 Millionen-Kubikmeter-Wassermassen ins Meer gespült. 250.000 Menschen waren von der Katastrophe betroffen.

Wiederaufbau zieht sich in die Länge
Langsam sehe man mittlerweile Fortschritte. Sechs bis acht Brücken wurden wiedererrichtet. Schulen und ein Krankenhaus befinden sich noch im Wiederaufbau.
„Sie versuchen ihr Bestes. Man versucht, die wichtigste Infrastruktur wiederherzustellen“, sagt Elasibai. Die Regierung versprach zumindest, das Zentrum der Stadt wieder vollständig wiederaufzubauen.
Menschen, die ihre Häuser verloren hatten, bekamen über die staatlichen Fonds 9.000 bis 18.000 Euro ausgezahlt. Für viele reichte die staatliche Förderung allerdings bei Weitem nicht. Der Wohnungs- und Immobilienmarkt brach zusammen und die Preise stiegen in die Höhe.

Ein Mann, der mehrere Familienmitglieder verlor, sitzt auf den Trümmern seines Hauses
Psychologische Wunden am größten
Untätigkeit der Politik
Fehlerhafte Evakuierung
Politisch gespaltenes Land
Libyen ist seit dem Aufstand 2011, der Langzeitdiktator Muammar Gaddafi stürzte, ein politisch geteiltes Land. In Tripolis, im Westen des Landes, regiert die von der UNO anerkannte Regierung. Im Osten des Landes ist eine von Armee-Chef Khalifa Haftar unterstützte rivalisierende Regierung an der Macht.
Im Zuge der Verfehlungen der Haftar-Regierung wurden laut BBC zwölf Beamte zu Gefängnisstrafen zwischen neun und 17 Jahren verurteilt. Sie wurden aufgrund von Missmanagement im Zusammenhang mit der Finanzierung und der Instandhaltung der Dämme schuldig gesprochen.
Ob die Betroffenen dadurch das Gefühl hätten, ein Stück Gerechtigkeit errungen zu haben?
Elasibai hat seine Zweifel: „Viele Menschen sind noch immer unglücklich, denn egal was die Regierung macht, sie wird nie ihre Familienmitglieder zurückholen können.“
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