Frauenfeindliches Lettland? Warum Riga plötzlich Gewalt an Frauen toleriert
 
            
            14 Stunden lang debattierte das lettische Parlament am Donnerstag. Die liberalkonservative Abgeordnete Agita Zariņa-Stūre erzählte die persönliche Geschichte ihrer Mutter, die von ihrem Vater geschlagen wurden, und um die Verletzungen zu verstecken, oft eine Sonnenbrille trug: "Er schlug sie, wenn ein anderer Mann sie auch nur ansah."
Trotzdem wurde der Gesetzesentwurf für den Ausstieg aus der Istanbul-Konvention für den Schutz von Frauen gegen Gewalt wenig später angenommen, mit Stimmen der Opposition und der grün-sozialdemokratischen Regierungspartei. Die Begründung: Das Regelwerk untergrabe traditionelle Familienwerte. Noch fehlt die Unterzeichnung von Staatspräsident Edgars Rinkevics, doch dann wäre Lettland das erste EU-Land, das aus dem Regelwerk aussteigen würde.
Frauenrechtsorganisation und Institutionen laufen Sturm, im sonst so protestfaulen Lettland sind am Donnerstag Tausende Lettinnen und Letten dagegen auf die Straße gegangen. 15 europäische Botschafter im Land schickten einen Protestbrief an das Parlament.
Wie konnte es im baltischen Lettland, das 1918 gemeinsam mit Österreich das Frauenwahlrecht einführte, einen der höchsten Frauenanteile in Führungspositionen in Europa (45 Prozent) und mit Evika Silina eine weibliche Regierungschefin hat, soweit kommen?
Traditionelle Frauenbilder und russische Desinformation
Die Istanbuler Konvention wurde 2011 vom Europarat ausgearbeitet, zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt. Darin werden politische und rechtliche Maßnahmen definiert, Ziel ist ein europaweit einheitlicher Rahmen für Prävention, Opferschutz und Strafverfolgung.
Lettland hatte die Konvention nach dem Amtsantritt Silinas 2023 ratifiziert, die Konservative war treibende Kraft. Schon damals kam es zu einer heftigen Debatte, die sich um ein Thema drehte: das soziale Geschlecht, also einer Identität abseits des biologischen Geschlechts. Ein gefundenes Fressen für Lettlands rechtspopulistische Parteien, die sich als Hüter "nationaler Werte" darstellen und diese auf Kosten der Rechte von LGBTQ-Personen verteidigen. Die Regierung fügte damals der Konvention zwar den Anhang bei, dass die Ratifizierung keine Änderungen im lettischen Rechts- und Bildungssystem verlange, was das Verständnis von Geschlecht angehe. Die Koalitionspartei, die nun den Gesetzesentwurf unterstützt hat, wirft der Regierung aber vor, sich nicht daran gehalten zu haben.
Der Gesetzentwurf über den Ausstieg wurde von der rechtspopulistischen Oppositionspartei LPV, "Lettland zuerst", eingebracht. Politico zitiert die LPV-Politikerin Ingūna Millere, die die Konventionen ein "Produkt des radikalen Feminismus" nennt, "das auf Gender-Ideologie basiert". Lettlands Ratifizierung sei "politisches Marketing, das nichts mit dem Kampf gegen Gewalt zu tun hat". Ein LPV-Politiker behauptete sogar, die Konvention verfolge eine geheime Agenda, die 150 Geschlechtsumwandlungen, unter anderem bei Kindern, umfasse. Erzählungen, wie man sie von russischen Desinformationskampagnen kennt.
In Lettland trat die Istanbuler Konvention am 1. Mai 2024 in Kraft. Die Konvention unterzeichnet, aber nicht ratifiziert, haben die EU-Länder Bulgarien, Tschechien, Slowakei und Ungarn. Kroatien hat in einer Erklärung Vorbehalte gegenüber der "Genderideologie" geäußert. Polen weigerte sich, in die Maßnahmen auch nicht-polnische Staatsbürger zu integrieren.
Die Frauenrechtsorganisation Equality Now kritisiert: Die Istanbuler Konvention würde als "LGBTQ-Agenda" umgedeutet, ein "Narrativ im Kreml-Stil", das in Lettland allerdings auf fruchtbaren Boden trifft. Frauenrechtsorganisationen beklagen veraltete Rollenbilder im Land, die das Verhalten von Frauen und Männern nach wie vor prägen. 2010 gaben in einer Studie der EU-Kommission 39 Prozent der Befragten an, mindestens eine Frau in ihrem Freundes- und Familienkreis zu kennen, die häusliche Gewalt erlebt hat. Erst seit 2014 gibt es ein Gesetz, demzufolge Täter von der Polizei aus der Wohnung gebracht werden können und sich dem Opfer sieben Tage lang nicht nähern dürfen. Viel zu häufig würden sich Polizisten jedoch auf die Seite der Männer schlagen.
Seit Juli 2024 erlaubt Lettland gleichgeschlechtlichen Paaren eine eingetragene Partnerschaft, der Ehe gleichgestellt ist die aber nicht: Homosexuelle Paare können nach wie vor keine Kinder adoptieren oder automatisch voneinander erben.
 
            
            
            Die lettische Ministerpräsidentin Evika Silina.
"Rache" des Opposition
Medien führen die Abstimmung auf noch etwas anderes zurück: politische Rache. Die aktuelle Regierung entstand 2023, nachdem die Partei von Ministerpräsidentin Silina die Mitte-Rechts-Koalition aufgekündigt hatte. Die lange an der Regierung beteiligte, rechtskonservative "Nationale Allianz" landete daraufhin in der Opposition. Die kollektive Zusammenarbeit der Oppositionsparteien ist eigentlich eine Seltenheit: Das Spektrum reicht von patriotischen Grünen über Trump nahestehende Rechtspopulisten bis zu Putin-affinen Vertretern der russischen Minderheit in Lettland. Noch dazu müssen spätestens im Oktober 2026 Neuwahlen in Lettland stattfinden – Kulturkampf als Wahlkampfthema, so scheint es.
Welche Auswirkungen die Abstimmung auf die Regierung haben wird, ist unklar. Im Parlament wurde auch vor einem internationalen Imageschaden gewarnt, Lettland könnte für ausländische Investoren weniger attraktiv werden. Staatspräsident Rinkevics hat angekündigt, das Gesetz zu prüfen und innerhalb der nächsten zehn Tage eine Entscheidung abgeben zu wollen.
Vor Lettland hat nur ein Land die Istanbuler Konventionen wieder verlassen, nämlich jenes, das eigentlich Namensgeber des Regelwerks war: die Türkei.
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