Der digitale Krieg des Kreml: Putin mischt bei der EU-Wahl mit

Der digitale Krieg des Kreml: Putin mischt bei der EU-Wahl mit
Russland destabilisiert Europa schon lange mit dezenten bis absurden Lügen. Problematisch wird das bei der EU-Wahl im Juni: In einigen Ländern glauben schon mehr Menschen Putin als Brüssel.

40 Kinder, tot, gestorben bei einem zynischen Experiment: „Selenskij erlaubte Pfizer, tödlichen Impfstoff an Kindern zu testen“, steht da auf Telegram, der Chicago Chronicle habe das aufgedeckt. „Was ist mit der internationalen Justiz, die Putin anklagt?“ und „Das schreiben die Mainstream-Medien wieder nicht“ posten die User darunter.

Berichtet wird deshalb nicht, weil die Meldung schlicht nicht stimmt. Den Chicago Chronicle gibt es seit 1907 nicht mehr, und keine Behauptung des Postings hält einer Recherche stand. Es ist eine der vielen Lügen, die im Netz herumschwirren, von denen beileibe nicht alle so offensichtlich sind: Dass Berliner Schulen aus Gender-Überlegungen Prinzessinnen- und Piratenkostüme verbieten wollen, dass Annalena Baerbocks Opa ein überzeugter Nationalsozialist gewesen sei, wie die deutsche Prawda meldet, verunsichert die Leser deutlich dezenter.

Alte Strategie

All die Berichte sind Teil einer großen Strategie, orchestriert im Kreml: Schon in den 1960ern erdachte der KGB die „Desinformazija“, die bewusste Verunsicherung durch Fehlinformation – der Westen wurde als dekadent, verdorben, korrupt dargestellt, Russland als Hüterin der wahren Werte. Seit 2008, als Putins Truppen in Georgien einmarschierten, führt der Kreml diesen Krieg auch digital: In unzähligen „Trollfabriken“ verbreiten bezahlte Schreiber Lügen und Irritation im Netz, meist ganz brav von 9 bis 17 Uhr.

Lange galt das als vernachlässigbarer, belächelter Nebenschauplatz. Mittlerweile haben Fake News aber wohl nicht weniger Einfluss als der echte Waffengang in der Ukraine: In britischen Studien gaben knapp die Hälfte der Nutzer an, mindestens einmal täglich auf Fake News zu stoßen – und das sind nur jene, die Falschmeldungen auch als solche erkennen. In Frankreich wurde zuletzt ein Netzwerk von 193 Pseudo-Nachrichtenportalen aufgedeckt, die unter seriöser Aufmachung verdrehte Wahrheiten anbieten. Die zuvor erwähnte Prawda ist da dabei.

Die Folgen all dessen sieht man an den Wahlurnen: Das Vertrauen in demokratische Institutionen und Regierungen schwindet, die Fundamente westlicher Gesellschaften bröckeln – und Populisten haben leichtes Spiel. Gut beobachten kann man das in der Slowakei. Das Land war schon immer russophiler als andere Ex-Ostblock-Länder, und die linkspopulistische Regierung unter Robert Fico bedient antiwestliche Vorurteile nicht nur kräftig, sondern diffamiert Desinformationsbekämpfer selbst als „aktivistische Meinungsmacher“. Das wirkt: Mittlerweile glauben nur mehr 40 Prozent der Slowaken, dass Russland den Krieg in der Ukraine begonnen hat. Der Rest schiebt die Schuld auf den Westen – oder ist sich einfach nicht sicher.

Problematisch kann das bei der EU-Wahl im Juni werden. Denn das Vertrauen in Brüssel, das in der russischen Propaganda neben Washington zum Kopf der westlichen „Meinungsdiktatur“ gemacht wird, schwindet dadurch freilich auch. In der Slowakei, wo Fico sich als Kämpfer gegen die EU-Bürokraten stilisiert, glauben darum laut einer aktuellen Umfrage 63 Prozent der Menschen, die USA würden versuchen die EU-Wahlen zu manipulieren. Weitere 62 Prozent denken tatsächlich, die EU selbst würde sich in Wahlen einmischen – Putin traut das nur ein Drittel zu.

Ältere empfänglicher

Woher die große Empfänglichkeit für „alternative Fakten“ stammt – so nannte das Umfeld von Donald Trump ja die Neuinterpretation der Realität –, ist selbst für Experten nicht einfach zu beantworten. Zum einen liegt es an der wachsenden Zahl älterer Netznutzer, eruierte das Central European Digital Media Observatory in Prag zuletzt: Sie verbreiten Fake News viel häufiger als Jüngere, weil ihnen oft ein Korrektiv fehlt – es gibt keine Kollegen oder Familienmitglieder, die irrige Behauptungen widerlegen könnten.

Der andere Grund dürfte sein, dass immer mehr westliche Politiker bewusst die Grenze zwischen wahr und falsch verwischen und damit Putin in die Hände spielen. Trump und Fico sind nur zwei Beispiele, die AfD, die FPÖ oder andere rechtspopulistische Parteien in Europa tun das ebenso. In Polen, wo Putins Anti-West-Ressentiments historisch nie verfingen, war etwa die rechtsextreme Partei Konfederacija hauptverantwortlich für die Blockaden ukrainischer Getreidelieferungen. Sie heizte damit eine Anti-Ukraine-Stimmung im Land an – und tat genau das, was Putin sich wünscht.

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