"Die Krise brachte das Beste in uns hervor"

Zehntausende kamen täglich in Lesbos an: "Alle haben mitangepackt."
Die Flüchtlingskrise hinterließ ihre Spuren auf der griechischen Insel Lesbos. Seit dem EU/Türkei-Deal kehrt Ruhe ein – und Zukunftsangst. Eine Reportage.

Name: unbekannt. Todestag: 30. 9. 2015. Ein paar Worte, mit schwarzem Filzstift auf weißem Stein geschrieben. Ein Grabstein von vielen. Auf einem Hügel über Mytilini, Verwaltungszentrum der griechischen Insel Lesbos. Hier im hinteren Bereich des Stadtfriedhofs liegen sie begraben: die Menschen, die sich in ein Schlauchboot setzten, eine Schwimmweste überzogen und hofften, dass sie die EU lebend erreichen würden.

Mehr als 100 ertrunkene Flüchtlinge hat die Gemeinde auf Lesbos bestattet. Die meisten von ihnen hier. Doch weil auf diesem Friedhof schnell kein Platz mehr war, errichtete man im Winter einen eigenen nur für Flüchtlinge im Landesinneren neben einem Olivenhain.

"Die Krise brachte das Beste in uns hervor"
A man reflects while standing in front of graves in Mytilene on February 17, 2016, at a graveyard for refugees and migrants who drowned in their attempt to cross the Aegean sea from Turkey to the island of Lesbos. / AFP / ARIS MESSINIS
Es sind nicht nur die vielen neuen, improvisierten Gräber, die zeigen, dass Lesbos eine humanitäre Katastrophe erlebt hat – und immer noch erlebt. Die Insel hat sich verändert. Und mit ihr das Leben ihrer Bewohner.

Insel der Solidarität

"Meine Arbeit, mein Leben sind nicht mehr was sie waren." Marios Andriotis sitzt im historischen Rathausgebäude hinter einem dunkelbraunen Schreibtisch, die Finger ineinander verkreuzt, die Augen müde. Heute ist ein stressiger Tag für den Politiker. Aber eigentlich ist seit vergangenem Jahr jeder Tag stressig. Gemeinsam mit dem Bürgermeister kümmert sich Andriotis um die Bewältigung der Flüchtlingskrise auf Lesbos. "Wir arbeiten bis zu 15 Stunden am Tag, in Notsituationen länger."

Besonders schlimm war es vergangenen September. Da waren die Neuankünfte schlicht überwältigend. Rund um Mytilini campierten 30.000 Flüchtlinge, so viele wie die Stadt selbst Einwohner hat. Man sei nicht vorbereitet gewesen. Aber jeder habe mit angepackt, von überall kamen zudem freiwillige Helfer.

Ja, die Krise habe die Insel verändert. Aber nicht zum Schlechteren: "Die Krise hat das Beste in uns hervorgebracht", ist sich Andriotis sicher. "Wir sind eine Insel der Solidarität und der Hoffnung geworden."

Hilfe trotz Wirtschaftskrise

Auch wenn das tägliche Drama mit Ankommenden und Ertrunkenen den Alltag belastet: Die Einwohner sind stolz auf ihre Hilfsbereitschaft und Gastfreundschaft, die trotz der wirtschaftlichen Situation in Griechenland voll zum Tragen kam. Diese Großzügigkeit erklärt sich durch einen Blick auf die Geschichte. Ein großer Teil der Bevölkerung sind Nachfahren von Flüchtlingen aus Kleinasien (heutige Türkei), die 1922 auf Lesbos Zuflucht fanden. Griechische Akademiker haben die Bewohner wegen ihres Einsatzes sogar für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen.

Schilder auf Arabisch

Für den Besucher sind es Kleinigkeiten, die zeigen, dass Lesbos nicht mehr dasselbe ist wie zuvor. Da sind die Schilder auf Arabisch vor den Restaurants rund um den Hafen, die improvisierten Zeltlager am Strand neben ein paar Sonnenschirmen. Es ist Nebensaison, aber alles hat geöffnet. Flüchtlinge, Journalisten, Aktivisten, freiwillige Helfer erschaffen eine situationsbedingte Konjunktur. Vor allem das Geschäft mit den Fährtickets boomt. Ein befragtes Reisebüro am Hafen verkauft an die 200 Tickets täglich an die Flüchtlinge, die weiter nach Athen wollen.

Touristen kommen nicht mehr

Aber da ist auch die Ungewissheit. Denn seit dem EU/Türkei-Deal wurden alle kleineren Lager geräumt, die freiwilligen Helfer verlassen die Insel. Es kommen weniger Flüchtlinge an, da durch die neuen Regeln alle ab Montag in die Türkei zurückgebracht werden sollen. Wer trotzdem kommt, wird bis zur Rückführung im EU-Hotspot-Lager Moria eingesperrt. Jene, die bereits in Camps wohnten, bringt die Polizei in aller Eile zu den Fähren und dann weiter in Lager am griechischenFestland.

"Die Krise brachte das Beste in uns hervor"

"Jetzt haben alle Arbeit, aber was ist im Sommer?"

Auf Lesbos kehrt damit Ruhe ein, aber auch Sorge um die Zukunft. "Jetzt haben alle Arbeit", sagt Taxifahrer Giorgos. "Aber was ist im Sommer? Die Flüchtlinge sind dann weg und die Touristen kommen nicht mehr."

Tatsächlich sind die Buchungen um 80 Prozent eingebrochen. Die Bilder der Krise gingen schließlich um die Welt.

Dabei ist das größte Chaos Geschichte, wenn es auch an manchen Orten eindeutig seine Spuren hinterlassen hat: Schwimmweste auf Schwimmweste stapelt sich an der Nordostküste der Insel auf einem gewaltigen Haufen. Mittlerweile sind es Zehntausende. "Friedhof der Rettungswesten" wird der Berg genannt.

Ein weiterer Friedhof für Lesbos.

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