Hat die Ukraine mit ihrer Gegenoffensive eine Chance?

Das Wrack brennt, der Pflug des Minenräumpanzers Leopard 2R steckt im minenübersäten Boden. Rundherum sind Krater der russischen Artillerie zu sehen, die den Panzer augenscheinlich getroffen hat. Mindestens drei, eventuell vier, der Leopard 2R haben die ukrainischen Streitkräfte in den vergangenen Tagen an der Front südlich der Ortschaft Mala Tokmachka verloren. Sechs dieser Spezialfahrzeuge hatte Finnland der Ukraine geliefert. Minenräumpanzer sind vor allem an der südlichen Front essenziell für die ukrainische Gegenoffensive, sie sollen die breit angelegten russischen Minengürtel für mechanisierte Kampfverbände räumen.
➤ Einige Leopard 2 von russischer Artillerie getroffen
Auch wenn die ukrainischen Streitkräfte an zwei Frontabschnitten am Wochenende um einige Kilometer vorrücken konnten – die Verluste der Leopard 2R sowie bis zu fünf Kampfpanzer Leopard 2 zeigen, dass die Gegenoffensive schwieriger verläuft als sich dies Kiew vorgestellt haben dürfte. Grundsätzlich müssen bei Angriffen auf vorbereitete Stellungen hohe Verluste einkalkuliert werden, Hunderte ukrainische Soldaten ließen in den vergangenen Tagen ihr Leben an dieser Front. Dass mindestens die Hälfte der Leopard 2R verloren ist, wiegt für den weiteren Verlauf der Offensive schwer. Zwar verfügt die Ukraine noch über zahlreiche Minenräumpanzer, etwa den sowjetischen IMR-2, allerdings gilt der Leopard 2R als prestigeträchtiges Fahrzeug.
Weiter vorgestoßen
Bei Welyka Novosilka (70 Kilometer östlich von Mala Tokmachka) dürften die ukrainischen Streitkräfte bis zur ersten Hauptverteidigungslinie der Russen vorgerückt sein. Hier beginnen wieder massive Minengürtel. Satellitenbilder zeigen das komplexe Netz russischer Verteidigungsanlagen, das die russischen Streitkräfte in den vergangenen sechs Monaten errichtet haben, mit mehreren Minenfeldern, Panzerabwehrgräben und Gräben, die in einigen Bereichen mehr als 30 Kilometer lang sein können.
➤ Nach Niederlagen im Feld: Die Russen haben aus ihren Fehlern gelernt
Genau hier wäre ein Leopard 2R von Vorteil, der mit 1.500 PS Erde und darin befindliche Minen in die Gräben schaufeln, die entstehende Erdbrücke überqueren und weiter vorstoßen könnte.
Ka-52 Kampfhubschrauber
Neben den Minen und dem präzisen Einsatz von Artillerie überraschten die russischen Streitkräfte die Gegenoffensive mit Angriffen durch die Kampfhubschrauber Ka-52, die mit Panzerabwehrraketen bestückt sind. Am Boden sorgen schnelle, wendige Fahrzeuge mit „Kornet“-Panzerabwehrraketen für ukrainische Ausfälle, außerdem kursieren Videos von FPV-Drohnen, die Leopard 2-Kampfpanzer attackieren.
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Bisher scheint die ukrainische Luftabwehr nicht den notwendigen Schutz für die angreifenden Verbände bewerkstelligen zu können – ein bedeutender Nachteil.
Mehr als 90 Prozent intakt
Dennoch ist es nach jetzigem Stand zu früh, von einem Scheitern der Gegenoffensive zu sprechen. Mehr als 90 Prozent der modernen NATO-Panzer sind noch intakt. Von den zwölf Brigaden (insgesamt etwa 60.000 Soldaten), die die Ukraine aufgestellt hatte, sind vorerst drei im Einsatz, sechs weitere halten sich für einen Durchbruch bereit.
„Wir glauben, dass das Offensivpotenzial der ukrainischen Armee noch lange nicht erschöpft ist und wir in naher Zukunft mit einer Verstärkung des Angriffs rechnen müssen", analysiert etwa der prorussische Kanal "Rybar". Eine Einschätzung, die auch von westlichen Generalen geteilt wird.
Wenn es den ukrainischen Streitkräften gelingt, die Minenfelder südlich von Mala Tokmachka zu durchbrechen und einen Vorstoß auf den von der Frontlinie 30 Kilometer entfernten Ort Tokmak und dann Melitopol (80 Km) zu unternehmen, haben sie die Chance, die russischen Streitkräfte in der Ukraine in zwei Teile zu teilen. Bis es so weit kommt, sind freilich massive russische Stellungen zu überwinden, werden Tausende weitere Soldaten auf beiden Seiten sterben.
Gleichzeitig dürfte der Angriff bei Welyka Novosilka darauf abzielen, nach Mariupol vorzustoßen, nördlich von Bachmut nahmen ukrainische Verbände weitere Gebiete ein, versuchen, die kürzlich verlorene Stadt einzukesseln.
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