Während bei Linke und AfD oft die Flügel schlagen, SPD und CDU sich in Personal- und Sachdebatten zerreiben, wirken die Grünen harmonisch. Alte Streitlinien zwischen "Fundis" und "Realos" gibt es, aber sie werden kaum öffentlich ausgetragen. Auch die Vorsitzenden klären Strittiges unter sich. Der Frage um eine Kanzlerkandidatur weichen sie aus, denn die ist heikel: Habeck ist prominenter, hat Regierungserfahrung als Umweltminister in Schleswig-Holstein, verheddert sich aber manchmal in Debatten. Baerbock wurde am Parteitag mit 97,1 Prozent wiedergewählt; Habeck mit 90,4 Prozent. In Umfragen liegt er dennoch vor seiner Co-Vorsitzenden sowie möglichen Kandidaten von CDU und SPD.
So pragmatisch wie beide Grüne sind, könnten sie auf die mehrheitsfähigere Variante setzen. Denn was sie und den Rest der Partei eint, ist ein Ziel: regieren. Habeck erklärte am Parteitag die Ära Merkel für "abgehakt". "Es wächst uns eine neue Rolle zu", sagte dort Baden-Württembergs grüner Ministerpräsident Winfried Kretschmann. Noch deutlicher wurde Bundestagsfraktionschef Anton Hofreiter: "Wir wollen regieren, und wir müssen regieren."
Wie schnell und ob sich die Frage des Regierens stellt, hängt auch von der SPD ab. Am 30. November steht das Ergebnis der Vorsitzenden-Wahl fest: Während Scholz/Geywitz für eine Fortsetzung der Koalition bis zur Wahl 2021 sind, will das andere Duo die Chancen der "GroKo" ausloten; den Koalitionsvertrag neu verhandeln und eine Minderheitsregierung der Union als Option, was Bundeskanzlerin Angela Merkel bisher ablehnte.
Von Neuwahlen würden die Koalitionsparteien, beide liegen in Umfragen unter ihrem Wahlergebnis von 2017, wenig profitieren. Eher die Grünen: Sie stehen bei 20 Prozent und vor der SPD, die sie bei der Europawahl überholten. Gut möglich, dass also alles beim Alten bleibt. Es liege viel Arbeit vor ihnen, ließen Merkel und Scholz jedoch von ihrer Klausur ausrichten.
Ob es den Grünen in der Warteschleife gelingt, sich vorne zu halten, ist ungewiss. Sie sind in den vergangenen zwei Jahren von 65.000 auf 94.000 Mitglieder gewachsen, profitieren von ihrer Rolle als Gegenpol zur AfD und dem Bewusstsein für Klimaschutz. Doch es gibt Grenzen: Bei den ostdeutschen Wahlen haben sie anders als in Bayern und Hessen nicht viel dazugewonnen. Die Lehre: Sie wollen sich breiter aufstellen.
Zur Wirtschaft pflegen sie verstärkt Kontakte, nun dringen sie in rotes Terrain vor: Der Mindestlohn soll auf zwölf Euro steigen; Wohnrecht im Grundgesetz stehen, Geld in neue Sozialwohnungen fließen – die Forderungen im künftigen Parteiprogramm kann man als Kampfansage an die schwächelnde Konkurrenz lesen, oder als Annäherung. Was die Grünen in den neun Ländern, wo sie mitregieren, gezeigt haben: Sie sind für sämtliche Bündnisse offen.
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