Plündernde Russen
Ist das Taktik? Oder schlicht Überforderung wie damals, als Corona Russland im Griff hatte und Putin sich in seinem Bunker in der Moskauer Vorstadt verschanzte?
Selbst Experten sind sich da nicht einig. Putin hat schon immer gern delegiert, um sich in haarigen Situationen aus der Verantwortung zu ziehen. Das war beim Terroranschlag auf das Einkaufszentrum Crocus City im März so, und schon im Jahr 2000 blieb er lieber auf Urlaub in Sotschi als sich um den Untergang eines Atom-U-Boots in der Barentssee zu kümmern – „Kursk“ hatte es geheißen, heute eine schicksalhafte Namensgebung.
Dass die Ukrainer aber so lange weitgehend ungehindert vorstoßen können, verwundert Beobachter dennoch. Vier Tage hat es gedauert, bis überhaupt eine Reaktion kam, das sei selbst für den sehr starren russischen Militärapparat „bemerkenswert langsam“, sagt Maxim Trudolyubov vom US-Think Tank Wilson Center. Dazu kommt, dass auch andere Nachrichten aus Kursk für Putins Apparat nicht ruhmreich sind: Im Netz kursieren Videos von russischen Soldaten, die Geschäfte ihrer eigenen Landsleute plündern, Handys und technische Geräte stehlen. Dazu werden NGOs, die junge Männer vor der Einberufung schützen, werden gestürmt: Die Ukrainer haben in Kursk viele junge Wehrpflichtige in Gefangenschaft genommen – trotz der Zusicherung Putins, die jungen Rekruten nicht im Kriegsgebiet einzusetzen.
Freilich, politisch zusetzen können solche Bilder Putin kaum etwas. Auch wenn nationalistische Militärblogger das als „Demütigung“ Putins sehen, ist die Bevölkerung nach wie vor apathisch. Laut jüngsten Umfragen wünschen sich zwar so viele Russen ein Kriegsende wie nie zuvor, dafür demonstrieren würde aber fast niemand.
Angst vor Gegenschlag
In der Ukraine sorgt Putins Abwarten deshalb für Spekulationen. Die Mutmaßungen reichen von einem großen konventionellen Gegenschlag bis zum Einsatz einer taktischen Atombombe. Jedoch: Die rote Linie dafür hat Putin immer wieder verschoben; darauf wies auch Präsident Wolodimir Selenskij nun hin. Damit wollte er wohl Ängste in der Bevölkerung zerstreuen als auch den Westen beschwichtigen. Dass die Ukraine westliche Waffen und Panzer nach Russland schickt, ist etwa in Deutschland zur innenpolitischen Debatte hochgekocht.
Militärexperten vermuten hinter Putins Abwarten allerdings Kalkül. Möglich scheint, dass man das Momentum im Donbass nicht aufgeben will; um die Ukrainer in Kursk zurückzudrängen, müsste man Männer von dort abbeordern. Dazu kommt, dass der Kreml schon länger mit Generalstabschef Walerij Gerassimow unzufrieden ist. Dass er kurz nach Beginn des Kiewer Vorstoßes die Offensive für zurückgeschlagen erklärte, hat das wohl noch verstärkt.
Im Hintergrund wurde darum mit Alexej Djumin einer von Putins „starken Männern“ für die Deeskalation Kursk verantwortlich gemacht. Er soll nicht nur als Putins Bodyguard einen Bären vor dessen Residenz vertrieben haben, er war auch Vizechef des Militärgeheimdiensts GRU. Der gilt nicht nur als sehr straff organisiert, sondern ist vor allem für seine Brutalität bekannt. Djumin wird Ähnliches nachgesagt – genauso wie eine lange und gute Vorbereitung auf seine Aktionen.
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