„Kritik an Israel ist nicht Antisemitismus“

Nachgefragt. Ein israelischer Pro-Palästina-Aktivist über seine Privilegien und die Proteste in Gaza

„Gegen die Besatzung“ steht auf den pinken Schildern der Demonstranten – in hebräischer Schrift. Sie schaffen es nur selten in europäische Medien, auch weil sie verhältnismäßig klein sind. Aber es gibt sie, die Proteste von Israelis gegen die Gaza-Politik der israelischen Regierung. Zuletzt waren es ein paar Hundert Menschen in Tel Aviv, die demonstriert haben. „Araber und Juden weigern sich, Feinde zu sein“, riefen sie.

Ein Kritiker der Politik Israels ist auch Tom Pessah. Der Soziologe war am Donnerstag auf Einladung des österreichischen Instituts VIDC zu Gast in Wien, wo ihn der KURIER zum Interview traf.

 

Wo waren Sie als die Botschaft geöffnet wurde?

In Tel Aviv. Aber ich glaube außerhalb von Israel/Palästina wird ein viel größerer Deal aus der Sache gemacht, als es eigentlich wert ist. Wenn Sie mit Palästinensern reden – natürlich sind sie dagegen – aber es ist nur Teil eines viel größeren Bildes. Der Marsch der Rückkehr heißt nicht der Marsch gegen Donald Trump, sondern der Marsch der Rückkehr.

Aber er hat nichts mit der Botschaft zu tun…

Nein, aber US-Medien sagen das. Sie behaupten, es gebe Unruhen in Gaza, weil Trump die Botschaft verlegt hat.

Naja, aber die Eröffnung der Botschaft erzeugte innerhalb der Proteste für neue Wut.

Ja, aber es war nicht der Grund für den Marsch.

Menschen in Europa und den USA folgen den Ereignissen in Israel nicht jeden Tag. Sie lesen über die Region, wenn etwas passiert. Und ziehen ihre Schlüsse.

Es ist der einfachere Weg. Wenn man sich die Wurzeln des aktuellen Konflikts ansieht, kommt man auf ganz andere Schlüsse. Das Bild, dass „die Araber“, „die Muslime“ wütend und gewalttätig werden, wenn etwas Bestimmtes passiert, ist meiner Meinung einfach islamophob.

Also die Eröffnung der Botschaft in Jerusalem ist nur halb so schlimm?

Ich kann das nicht in meinem Namen sagen, als Israeli. Aber wenn man palästinensischen Kommentatoren zuhört, dann ist es ja nicht gerade so, dass alles gut und schön war bis Trump plötzlich die Botschaft verlegt hat. Sie haben genügend ernsthafte Probleme. Das ist nur ein weiteres. Aber Dinge gehen in die falsche Richtung. Was die Versöhnung angeht. Aber es ist nicht das größte Problem, wenn wir uns das Fehlen von Gesundheitsversorgung, sauberem Trinkwasser, Wohnbau ansehen usw.

Sie sind in Tel Aviv aufgewachsen. Das politische Klima, die Erziehung, das Bildungssystem scheint es einem in Israel geborenen Kind beinahe unmöglich zu machen, auf die Situation mit den Palästinensern einen anderen Blickpunkt zu bekommen, als dass Israel unter einer ständigen Bedrohung lebt. Wie haben Sie sich diesen anderen Blickwinkel angeeignet?

Ich glaube, es ist eine Frage des Privilegs. Ich konnte zur Universität gehen, Soziale Medien benutzen, Englisch lernen, in den USA studieren. Wenn man solche Privilegien hat und andere Dinge lernen will, dann kann man das. Die meisten haben dafür gar keine Möglichkeit.

Aber es ist ja auch schwer, in einem Krieg – was es ja offiziell ist – Offenheit gegenüber dem Gegner zu behalten…

Naja, es wird als Krieg dargestellt. Die Ausrede für alles, was die Regierung macht, ist Krieg bzw. Sicherheitsaspekte. Sie schießen auf Demonstranten und sagen sie können nicht anders, weil wir ja im Krieg sind.

Welche Rolle spielen Ihre Eltern in Ihrer politischen Entwicklung?

Meine Eltern waren eher links. Aber ich war immer ein bisschen anders als andere. Ich habe nicht immer alles geglaubt, was in den Medien gestanden ist. Und es ist mir auch möglich. Wenn ich Palästinenser wäre, würde ich für das, was ich tue, im Gefängnis landen. Das muss man sich immer vor Augen führen. Plus: Ich lebe in Tel Aviv. Dort gibt es immer ein paar Ecken, in denen es Aktivisten, Proteste und Anders-Denkende gibt.

Die NGO „Zochorot“, bei der Sie ehrenamtlich arbeiten, beschäftigt sich mit dem Recht der Palästinenser auf Rückkehr. Was bedeutet das?

Wir vermitteln Israelis das Thema der „Nakba“ und promoten das Recht auf Rückkehr als Korrektur für das, was 1948 passiert ist.

Macht es überhaupt Sinn, dass Palästinenser in Regionen „zurückkehren“, in denen sie ihr ganzes Leben nie waren?

Das gesamte Konzept Israels basiert darauf, dass Juden nach Israel „zurückkehren“. Sagen wir, wir haben einen amerikanischen Juden. Wenn er morgen nach Israel auswandert, erhält er Geld von der Regierung, um hier ein Leben zu beginnen, sich zu integrieren. Genannt: Das Gesetz der Rückkehr. Heißt, dass Israel sie bezahlt, um das Unrecht zu korrigieren, das ihnen das Römische Reich vor 2000 Jahren angetan hat, als es sie vertrieben hat.

Und deshalb sollen Palästinenser an Orte zurückkehren, an denen ihre Vorfahren gewohnt haben?

Es ist fair.

Aber erzeugt das nicht noch mehr Probleme?

Der Status quo ist nicht tragbar. Oder ein Palästinenser, der in Jaffa wohnt, kann seine Verwandten in Gaza nicht besuchen oder umgekehrt. Ich kann meine Verwandten in Haifa jederzeit besuchen. Das ist nicht fair. Wir sind Bürger desselben Landes, aber ich habe ihm gegenüber so viele Privilegien. Sind meine Verwandten mehr wert als seine? Allein dieser Aspekt kreiert Instabilität. Und erzeugt eine Situation, in der wir in Israel etwa einen viel größeren Teil unseres Budgets für Sicherheit ausgeben als für Bildung oder Gesundheitsversorgung, Wohnbau etc.

Die Idee ist also, dass es die Möglichkeit der Rückkehr gibt – und Palästinenser selbst entscheiden können, ob sie übersiedeln oder nicht?

Genau. Es ist keine Pflicht. Man könnte es mit dem Feminismus vergleichen. Wir wollen die Möglichkeit, dass Frauen Ingenieure oder Lehrer etc. werden können. Aber deshalb muss sie es nicht werden. Aber es sollte ihre Wahl sein. Es ist eine Frage der Ermächtigung.

Wenn wir als israelische Juden von uns erzählen, wollen wir, dass das Gegenüber unsere Geschichte berücksichtigt. Aber wenn wir das erwarten, dann müssen wir auch die Geschichte der Palästinenser berücksichtigen. Es ist Teil der Identität der Menschen.

Ist es nicht auch ein bisschen palästinensische Propaganda, wenn man Kindern immer und immer wieder erzählt: „Du bist zwar in Gaza geboren, aber eigentlich gehört deine Familie nach xy“?

Es ist Teil der lokalen Identität.  Wenn du einen bestimmten Akzent hat oder die Familie einen bestimmten Namen oder bestimmte Traditionen, Kleidung. Dann kannst du das nicht einfach vergessen und weiterziehen. Dann verlierst du einen großen Teil deiner selbst. Plus: Wir sagen ja auch nicht zu Familien von Holocaust-Überlebenden, sagen wir, aus Polen: „Warum geht ihr jetzt nicht einfach nach Polen?“ Wenn die Familie dort Traumata erlebt hat.

Sie haben in den USA gelebt. Was ist das Problem der US-Politik in Israel?

Sie ist getrieben von speziellen Interessen. Nicht von dem, was die Öffentlichkeit will. Denken Sie an Guncontrol oder Health Care. In erster Linie ist es die Waffenindustrie, deren Kunde Israel ist. Andererseits sind es die Evangelikalen, die Druck auf Trump ausüben. Und die Israel-Lobby. Sie ist nicht die jüdische Gemeinschaft aber ein organisierter Teil davon. Die „Jüdischen 1 Prozent“ – also innerhalb der jüdischen Community die einflussreichsten, mächtigsten Persönlichkeiten. Sie können durch ihre Ressourcen Druck aufbauen. Aber es gibt auch einen Trend – wenn auch keine Mehrheit –in den USA von jungen Juden, die sich dagegen aussprechen.

Was denken Sie über die Israel-Politik Europas?

Ich habe nicht das Gefühl, dass es viel Israel-Politik aus Europa gibt. Es gibt ein paar mutige Organisationen. Speziell in Deutschland ist es schwer, Israelische Politik zu kritisieren, weil man immer schnell den Vorwurf des Antisemitismus hört. Und weil man eine historische Verantwortung gegenüber Juden verspürt. Auch in Österreich. Aber die historische Verantwortung und die Unterstützung für die aktuelle israelische Regierung sind zwei komplett verschiedene Dinge. Aber unglücklicherweise – bzw. auch teilweise bewusst – wird das oft vermischt. Das ist übrigens auch gefährlich für Juden. Denn wenn man israelische Politik und Juden gleichstellt, dann haben wir schnell einen Hass auf Juden, wenn es doch eigentlich ein Hass auf die Politik der aktuellen israelischen Regierung wäre. Das kann eigentlich niemand wollen.

Gibt es mit Netanjahu eine Chance auf eine Zweistaaten-Lösung?

Ich glaube, die Medien konzentrieren sich zu sehr auf Personalien. Ich finde, dass sie sich mehr auf soziale Bewegungen konzentrieren sollten. Sie können durchaus durch Druck Politiker zum Umschwenken bringen.

Sie sind offenbar optimistisch, was die Zivilgesellschaft betrifft.

Was soll ich anderes machen? Mit Pessimismus werden wir nichts ändern. Ich will auch nicht naiv optimistisch sein. Aber immer weitermachen und nicht aufgeben.

„Kritik an Israel ist nicht Antisemitismus“

Tom Pessah, israelischer Soziologe und Aktivist 

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