Vor einem halben Jahr klopfte es an Wladimirs Tür. Hätte er aufgemacht, wäre die Zeit seitdem vielleicht anders verlaufen. Womöglich säße er im Gefängnis, auch Schlimmeres ist denkbar. Doch er hat die uniformierten Männer bereits durchs Fenster auf sein kleines Haus in Tula, Zentralrussland, zukommen sehen – und so getan, als wäre er nicht da.
Der 40-Jährige ist einer von Hunderttausenden Russen, die in den letzten Monaten in den Krieg gegen die Ukraine einberufen wurden. „Ich hatte damit gerechnet“, erzählt Wladimir dem KURIER in einem Video-Telefonat. Denn der unerwünschte Besuch kam am 27. September 2022 – sechs Tage, nachdem Präsident Putin die Teilmobilmachung angekündigt hatte. „Es gab Gerüchte, dass sie uns holen kommen“, erinnert Wladimir sich. Daher habe er bereits alles mit seiner Frau diskutiert gehabt, als es tatsächlich so weit war.
Flucht per Anhalter
Der Plan war riskant, doch Wladimir zog ihn durch: Einen Tag nach der Einberufung packte er das Wichtigste in einen Rucksack und fuhr per Anhalter ins Nachbarland Kasachstan. Hätte er den Befehl persönlich angenommen, wäre eine Flucht vielleicht schwieriger geworden. So aber funktionierte es, er kam ohne Probleme über die Grenze. Dann ging es mit dem Flugzeug weiter ins kleine Balkanland Montenegro, wo Wladimir seither lebt.
Hier fühlt er sich sicher, genießt die neu gewonnenen Freiheiten: „Ich kann endlich sagen, was ich mir denke“, erklärt er. Glücklich sieht er dabei nicht aus. Während Wladimir spricht, zündet er sich eine Zigarette nach der anderen an – seit Kriegsausbruch raucht er drei Packungen pro Tag. Dabei läuft doch vieles gut für ihn, hier an der Adria-Küste.
Angst um die Familie
Im Gegensatz zu vielen anderen Ländern darf er in Montenegro arbeiten. Es gibt eine große russische Community, über die er einen netten Mitbewohner gefunden hat – sie können sich eine Wohnung in der Nähe von Podgorica leisten. Was ihn also so traurig macht? Seine Augen werden glasig. „Ich habe Angst um meine Familie“, sagt er. Wladimirs Frau und die drei Kinder sind in Tula geblieben. Dass die Behörden ihnen etwas tun, glaubt er nicht. „Aber die Nachbarn fragen nach mir.“
Jene Nachbarn, die ihn wegen seiner ukrainischen Wurzeln „Chochol“ nennen – ein abwertender Begriff der Russen speziell für Ukrainer. Es sind auch dieselben Nachbarn, die ihre Söhne als Freiwillige an die Front schicken. „Meine Frau erzählt ihnen, dass ich für die Arbeit im Ausland bin, aber das glauben sie nicht mehr“, sagt Wladimir. Sein Sohn werde in der Schule gemobbt: „Sie sagen ihm, er sei das Kind eines Verräters.“
Mit seinen Gefühlen ist der Vater nicht allein. "Männer wie Wladimir sind oft deprimiert", sagt Sofia Shaidullina von der NGO Pristanište(dt. Hafen). Das weiß sie, weil sie mit vielen von ihnen zu tun hatte, nachdem sie als Reaktion auf Putins Teilmobilmachung zu Hunderten nach Montenegro gekommen waren.
Kriegsverweigerung ist ein Menschenrecht. Das hat die UNO Vollversammlung 1987 beschlossen. Dieses Recht gibt es auch in Russland, aktuell ist es aber ausgesetzt. Wer eine Einberufung erhält, aber nicht in den Krieg zieht, dem drohen strenge Strafen – offiziell ist von 15 Jahren Haft die Rede.
Am 21. September 2022 verkündete Putin eine „Teilmobilmachung“ – 300.000 Reservisten sollten eingezogen werden. Hunderttausende Russen verließen daraufhin das Land.
In Österreich wird von Fall zu Fall unterschieden, ob russische Kriegsverweigerer subsidiären Schutz erhalten. Im Jänner und Februar 2023 stellten 250 Russen einen Antrag.
Pristanište versorgt nicht nur geflüchtete Russen, sondern auch Belarussen sowie Ukrainer mit dem Nötigsten und stellt ihnen vorübergehend Unterkünfte zur Verfügung. Trotz der angespannten Lage zwischen ihren Heimatländern leben sie teilweise unter einem Dach, in der Regel ohne Probleme. "Mir tun geflüchtete Russen manchmal gleich leid wie die Ukrainer - auch wenn es verpönt ist, so etwas zu sagen", sagt Sofia über ihre Arbeit.
Auch Wladimirs Situation nimmt sie mit. Er würde seine Liebsten lieber heute als morgen zu sich holen. Aber er weiß noch nicht, wie und wo sie weiterleben werden: „Vielleicht hier, vielleicht können wir auch nach Deutschland.“
Fast gleich hört es sich an, wenn der 32-jährige Maksim (Name von der Redaktion geändert) aus Balaschow im Süden Russlands über seine Zukunft spricht. Wladimir und er kennen sich nicht, ihre Geschichten ähneln sich aber. Der bedeutende Unterschied: Auf Maksim dürften es die russischen Behörden noch einmal mehr abgesehen haben. Denn der 32-Jährige war Soldat der russischen Armee, als er dem Heimatland den Rücken kehrte.
Das Leben als Deserteur
Acht Jahre hatte er als Sanitäter gedient, sieben davon auf einer Basis in Tadschikistan – vor allem wegen des Geldes, er verdiente beim Heer zehnmal mehr als im Krankenhaus. Auch am Tag des Kriegsbeginns in der Ukraine war er im Dienst.
„Ich konnte mir nicht vorstellen, dass das passiert, und dachte, Putin provoziert nur – auch, wenn davor von seltsamen Übungen nahe der Grenze die Rede war“, erinnert Maksim sich. Internetzugang hatte er am 24. Februar erst abends. Er konnte nicht glauben, was er las: „Ich war schockiert darüber, dass ich in einem Staat lebe, der seinen Nachbarn angreift.“ Den restlichen Tag verbrachte er damit, seine Frau – sie hat ukrainische Wurzeln – zu beruhigen. Das Paar suchte nach Protestmöglichkeiten, fand aber wenig: „Die Menschen hatten zu große Angst“, sagt Maksim.
Innerhalb der Armee sei die Stimmung danach merkwürdig gewesen. „Die meisten Kollegen haben nicht darüber gesprochen, damit niemand sie in den Kampf schickte.“ Einige hätten nach Ausreden gesucht, um „Geschäftsreisen“ in den Westen zu meiden. „Manche wurden krank, andere nahmen Urlaub.“ Und wieder andere kündigten, so auch Maksim – am 28. Februar reichte er das Schreiben ein, wollte nichts mehr mit dem Heer zu tun haben.
"Alles besser als Krieg"
Doch seine Vorgesetzten akzeptierten das nicht. „Sie drohten, mich als Vaterlandsverräter zu verhaften.“ Das taten sie nicht. Stattdessen gaben sie ihm jenes Dokument, das er auf keinen Fall wollte: „Sie haben mich in die Ukraine einberufen“ – wenn er das erzählt, lacht er bis heute empört auf. Danach machten Maksim und seine Frau sich wie Wladimir auf den Fluchtweg – auch ihrer endete vorerst in Montenegro, im Küstenstädtchen Kotor. Ginge Maksim zurück nach Russland, drohen ihm dort mindestens 15 Jahre Haft.
Was hätten Wladimir und Maksim gemacht, wenn sie nicht hätten flüchten können? Wenn Krieg und Gefängnis die einzigen Möglichkeiten gewesen wären? Sie hätten sich beide für die Haftstrafe entschieden, sagen sie. „Es ist einfach alles besser, als dieser Krieg“, so Maksim.
Kommentare