Wieder schwere Angriffe auf Kiew und Charkiw - bald auch mit verbotenen Waffen?
Die Friedensgespräche in Belarus laufen, doch Russland setzt trotzdem seine Angriffe mit aller Wucht fort. Montagabend meldeten ukrainische Medien neue Luftangriffe auf Kiew und Charkiw, die zweitgrößte Stadt der Ukraine. Es gebe große Explosionen. Der Bürgermeister Charkiws, Ihor Terechow, sagte dem „Spiegel“ am Telefon, es würden Wohnblöcke beschossen und Zivilisten getötet. „Das ist ein Vernichtungskrieg gegen die Zivilbevölkerung.“
Seit der Früh liegt offensichtlich Charkiw, unter massiven Luftangriffen. Der Berater des ukrainischen Innenministers, Anton Heraschtschenko, veröffentlichte zu Mittag ein Video, das mehrere Raketeneinschläge in einem Wohngebiet zeigte. „Die ganze Welt sollte diesen Horror sehen“, schrieb Heraschtschenko. Es gebe Dutzende Tote und Hunderte Verletzte.
Verheerende Waffensysteme
Seit der Früh rollt auch auf Kiew ein "riesiger russischer Militärkonvoi" zu, das berichten internationale Medien übereinstimmend. Militärexperten, darunter auch der Österreicher Markus Reisner, erwarten außerdem einen zunehmenden Einsatz von Waffensystemen, die auf großer Fläche, daher auch unter der Zivilbevölkerung, verheerende Wirkung entfalten würden: "Sie werden jetzt damit beginnen, verheerende Waffensysteme auch in städtischen (zivilen) Vierteln einzusetzen, um den Widerstand des ukrainischen Militärs zu brechen. Das gilt insbesondere für Kiew, Charkiw, die Städte entlang des Dnjepr und die 'Südfront'“, wo ein Durchbruch nördlich der Krim beabsichtigt sei. Es werde in nächster Zeit wohl zu einem verstärkten Einsatz ballistischer Raketen kommen, erwartet Reisner. Außerdem könnten thermobare Sprengköpfe mit den Raketensystemen TOS1, TOS1A, BM21, BM27 und BM30 abgeschossen werden. Der Einsatz solcher Brandwaffen ist gemäß internationaler Protokolle verboten.
Flächenbombardement
Reisner rechnet auch mit dem Einsatz konventioneller Bomben aus Flugzeugen, auch von solchen mit sogenannter "Streumunition". Auch der Einsatz dieser Waffen ist verboten, wobei sie in vielen Kriegen, auch im Jugoslawienkrieg 1999, oder im Irak abgeworfen wurden.
Die ukrainische Agentur Unian meldete, dass von der Halbinsel Krim viele Bomber und Jagdflugzeuge nach Norden gestartet seien. Die Ziele sollen Kiew, die Städte Mykolajiw und Cherson im Süden sowie die zweitgrößte Stadt Charkiw im Osten sein.
Bereits in den Morgenstunden wurden immer wieder Explosionen in Kiew und Charkiw gemeldet. Die Bevölkerung ist aufgerufen, nur bei dringender Notwendigkeit die Häuser zu verlassen. Straßenkämpfe fänden weiterhin in praktisch allen Bezirken der Stadt statt.
Medien berichten von Fliegeralarm und dem Aufruf an die Bevölkerung, in Bunkern Schutz zu suchen. In der Hauptstadt war es zuvor einige Stunden lang ruhig gewesen. Auch KURIER-Redakteur Armin Arbeiter und Fotograf Jürg Christandl, die sich aktuell ebenfalls in Charkiw befinden, meldeten Alarm und Explosionen.
KURIER Reporter Armin Arbeiter meldet sich aus Charkiw
Inzwischen vermeldete das russische Verteidigungsministerium, dass die Abschreckungswaffen der Atommacht in verstärkte Alarmbereitschaft versetzt worden sind. Konkret nannte er die strategischen Raketentruppen, die Nord- und die Pazifik-Flotte und die Fernfliegerkräfte. Putin hatte den Schritt am Sonntag als Reaktion auf "aggressive Äußerungen der NATO" angeordnet.
Fallschirmjäger aus Belarus
Unian berichtete weiter, dass belarussische Fallschirmjäger den Befehl bekommen hätten, um 5 Uhr in die Ukraine zu fliegen. Sie beruft sich dabei auf Informationen von Andrej Strischak von der Nichtregierungsorganisation Bysol (Belarus Solidarity Foundation), die sich für Betroffene von politischen Repressionen in Belarus einsetzt. Der belarussische Präsident Lukaschenko hatte nach Angaben von des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskij allerdings noch am Sonntag versichert, nicht in den Krieg eingreifen zu wollen. Die Berichte konnten jedoch nicht unabhängig überprüft werden.
Der ukrainische Generalstab hatte am Sonntag eingeräumt, dass die Lage "schwierig" sei, weil der russische Beschuss "aus praktisch allen Richtungen" andauere. Aktuell wird am Luftwaffenstützpunkt Wassylkiw südlich von Kiew heftig gekämpft.
Ukraine spricht von 4.500 toten russischen Soldaten
Russland hatte am Sonntag erstmals Todesopfer im Krieg eingeräumt, laut Kreml deutlich weniger als auf ukrainischer Seite. Zahlen wurden aber keine genannt. Der ukrainische Generalstab hingegen spricht von mehr Toten auf russischer Seite und nannte 4.500 tote russische Soldaten seit Kriegsbeginn. Außerdem sollen Hubschrauber, Panzer und weitere militärische Fahrzeuge zerstört worden sein. Von unabhängiger Seite ließ sich keine Angabe überprüfen.
Das US-Verteidigungsministerium warnt jedoch, dass Putin erst zwei Drittel seiner für die Invasion an der Grenze zusammengezogene "Kampfkraft" in der Ukraine im Einsatz und dementsprechend starke Truppen noch in petto habe. Und lobte die heftige Gegenwehr der Ukrainer: "Die Ukrainer leisten erbitterten Widerstand", sagte ein hochrangiger Mitarbeiter des Ministeriums am Sonntag (Ortszeit) in einem Briefing für Journalisten. "Das ist heldenhaft, das ist inspirierend, und das ist für die Welt sehr deutlich zu sehen."
Verhandlungen starteten
Ursprünglich hatten sich die Ukraine und Russland auf Gespräche über eine mögliche Friedenslösung am Sonntag geeinigt, diese wurden nun auf Montagvormittag verschoben. Das melden die russische Staatsagentur Tass und die Ukrainska Pravda. Die Verhandlungen begannen um 12 Uhr Ortszeit, das entspricht zehn Uhr unserer Zeit.
Weiters findet heute eine Dringlichkeitssitzung der UN-Generalversammlung und die Tagung des UN-Menschenrechtsrats statt. Der russische Außenminister Sergej Lawrow hatte bei Letzterer seine Teilnahme angekündigt – dürfte aber aufgrund der Luftraumsperre für russische Flugzeuge nicht teilnehmen können.
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