Russlands Häftling Nr.1 in Berlin
Dem Reporter des russischen Staatsfernsehens war die Enttäuschung deutlich anzumerken. Sein Kamerateam hatte sich bei Nacht und Nebel im Wortsinn in die Einöde der Teilrepublik Karelien an der Grenze Finnland aufgemacht, um den historischen Moment ja nicht zu verpassen, wenn sich für den Kreml-kritischen Oligarchen Michail Chodorkowski nach mehr als zehn Jahren die Tore des Straflagers öffnen. Mit ewigem Ruhm konnte der Reporter sich dabei nicht bedecken. „Da“, sagt er nur und zeigte auf einen Hubschrauber, der über dem verschneiten Gelände eine letzte Runde zog und dann Kurs Richtung Süden nahm, „da fliegt er“.
Wo, wann und wie er aus dem Helikopter, so er überhaupt in diesem saß, in eine Maschine nach Deutschland umstieg, ist unklar und erinnert, wie kritische Medien hämen, mehr und mehr an eine „Geheimdienstoperation“.
Als gesichert gilt bisher lediglich, dass Chodorkowski bei der Freilassung ausdrücklich um Dokumente für die Ausreise ins Ausland bat. So jedenfalls erfuhr es die Nachrichtenagentur RIA nowosti bei der Anstaltsleitung. Er wolle in Berlin seine Mutter treffen, die dort medizinisch behandelt wird. Diese ließ postwendend dementieren. Sie sei in Moskau und habe bisher nicht einmal eine offizielle Mitteilung über den Gnadenerlass erhalten, den Präsident Putin Freitagvormittag unterzeichnete.
Er tritt zwar mit sofortiger Wirkung in Kraft, das Procedere für die Abwicklung ist jedoch normalerweise kompliziert und nimmt gewöhnlich mehrere Tage in Anspruch. Denn die Freilassung des Begnadigten kann erst erfolgen, wenn die regionale Vollzugsbehörde den Präsidenten-Erlass im Original von der Kremladministration per Kurier bekommen hat. Zustellung per Fax oder Email hätten keine juristische Wirkung, sagte ein Sprecher der Behörde noch, kurz bevor Chodorkowskis Entlassung.
„Umgefallen“
Eingefädelt haben sollen den Deal die Geheimdienste, wie die Moskauer Tageszeitung Kommersant schreibt. Ohne Beisein seiner Anwälte im Lager in Karelien erzählten ihm die Agenten anscheinend von neuen Ermittlungen und von der Verschlimmerung des Krebsleidens seiner achtzigjährigen Mutter Marina. Daraufhin soll Chodorkowski, wie das Blatt unter Berufung auf einen Augenzeugen berichtet, „umgefallen“ sein und Putin um Milde gebeten haben.
Das kommt aus Sicht von Experten einem Schuldeingeständnis gleich. Und beinhaltet automatisch auch die Rechtmäßigkeit aller gegen ihn ergangenen Urteile. Das hat Konsequenzen. Für Vorbestrafte gelten lange Sperrfristen bei der Bewerbung um öffentliche Ämter, vor allem um das des Präsidenten.
Per Gnadenerlass dazu verdammt, der Quasi-Verstaatlichung seines Unternehmens Yukos anzuerkennen, kann er nicht auf Entschädigung klagen und den Konzern neu aufbauen.
Wer dem Kreml nicht zu Gesicht steht
Der Kremlkritiker Michail Chodorkowski hat sich erstmals öffentlich zu Wort gemeldet. Die Nachrichtenagentur dpa dokumentiert die Mitteilung in eigener Übersetzung aus dem Russischen.
"Liebe Freunde,
ich habe mich am 12. November an den Präsidenten gewandt mit der Bitte um Gnade angesichts familiärer Umstände und freue mich über die positive Entscheidung.
Die Frage eines Schuldeingeständnisses hat sich nicht gestellt.
Ich möchte allen danken, die alle diese Jahre den Fall Yukos verfolgt haben, und für die Unterstützung, die sie mir, meiner Familie und allen gegeben haben, die zu Unrecht verurteilt worden sind und die immer noch verfolgt werden. Ich freue mich schon sehr auf den Moment, wenn ich meine Familie umarmen und allen meinen Freunden und Kollegen persönlich die Hand schütteln kann.
Ich denke besonders an diejenigen, die weiter in Haft sitzen.
Ich danke besonders Herrn Hans-Dietrich Genscher für seine persönliche Anteilnahme an meinem Schicksal. Zunächst einmal werde ich meine Schuld bei den Eltern, meiner Frau und meinen Kindern begleichen und freue mich sehr darauf, sie zu treffen.
Ich warte auf die Gelegenheit, die bevorstehenden Feiertage mit der Familie zu feiern. Ich wünsche allen ein glückliches neues Jahr und frohe Weihnachten.
Ein Sprecher von Russlands Präsident Wladimir Putin antwortete unterdessen auf die Frage der dpa zur Zukunft des begnadigten Kremlkritikers: "Er ist ein Staatsbürger und kann jederzeit nach Russland zurückkehren."
Nach der Freilassung von Michail Chodorkowski streiten Experten in Russland darüber, ob der russische Dissident mit seinem Gnadengesuch nun seine Schuld anerkannt hat. In den zehn Jahren seiner Haft wies der Gegner von Kremlchef Wladimir Putin jedenfalls stets die Vorwürfe wegen Steuerbetrugs, Geldwäsche und Öldiebstahls zurück.
Ein Gnadengesuch lehnte er stets ab, weil der Kreml ihm ein Schuldbekenntnis abverlangte. Diesen Triumph wollte er Putin nie gönnen. Putins Sprecher Dmitri Peskow betonte nun, dass der Gnadenakt aus Sicht des Kreml eine Anerkennung der Urteile bedeute - also Niederlage für Chodorkowski. Dagegen meinte der Parlamentsabgeordnete Pawel Krascheninnikow von der Kremlpartei Geeintes Russland, dass ein Schuldeingeständnis keine Bedingung sei für eine Begnadigung.
Sorge um Mutter
Diejenigen, die Chodorkowski gut kennen, meinen, dass er wohl aus Sorge um seine krebskranke Mutter sich für das Gnadengesuch an Putin entschieden habe. In der Zeitung Wedomosti spekulierten Experten darüber, dass es eine Einigung gegeben haben könne zwischen den beiden Kontrahenten. Putin sagte nur, dass er den Akt aus humanitären Gründen unterzeichne - und wies auf die Krankheit der Mutter hin.
Der Menschenrechtler Waleri Borschtschew sagte der Zeitung, dass von Gefangenen zwar ein schriftliches Schuldeingeständnis abverlangt werde, aber Chodorkowskis Fall anders liege. Der Putin-Gegner kämpft vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte darum, dass die Urteile gegen ihn als politisch motiviert anerkannt werden. Er hat mehrere Bücher geschrieben, in denen er seine Schuld zurückweist.
Waren es die Ankündigungen ausländischer Spitzenpolitiker, nicht nach Sotschi zu fahren? Oder hatte Präsident Putin ohnehin vor, mit der medienwirksamen Freilassung prominenter Gefangener sein Image rechtzeitig vor Olympia aufzupolieren? Entscheidend ist letztlich nur: Was jetzt wie ein Gnadenakt daherkommt, ist nur die andere Seite von Russlands politisch gesteuerter Willkürjustiz. Gefängnis oder Freiheit – „Zar“ Putin gibt’s und nimmt’s ganz nach Belieben. Denn nach halbwegs vernünftigen Rechtsmaßstäben hätten die jetzt amnestierten Pussy-Riot-Sängerinnen, die Greenpeace-Aktivisten und auch Ex-Tycoon Chodorkowski gar nie hinter Gittern landen dürfen. Sie alle nun frei zu lassen, kostet den Machtmenschen Putin nichts – und ändert nichts. In Russland wird nicht schlagartig der Rechtsstaat einkehren. Putins Gegner dürfen auch morgen noch damit rechnen, im Gefängnis zu landen. Und das Anti-Homosexuellen-Gesetz bleibt aufrecht. Weitere Boykottandrohungen westlicher Staatschefs für Sotschi wären also angebracht.
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