#NoGroKo: Noch schnell einmal die SPD retten

Kevin Kühnert in Leipzig
Deutschland: Juso-Chef Kevin Kühnert trommelt landesweit gegen die Große Koalition – der KURIER war bei seinem Auftakt dabei.

Wie schnell es gehen kann. Dafür braucht es keine gegnerische Partei, auch keinen revoltierenden Parteinachwuchs: Es reichen zwei Männer mit großem Ego, die sich um das Außenministerium streiten, als wäre es ein Teddybär. Martin will es, Sigmar auch, der eine nimmt es dem anderen weg, Sigmar schreit, Martin rennt weg – seine Schwester kommt und sagt (in Interviews): alle sind gemein zu meinem Bruder.

Diese Posse rund um Sigmar Gabriels Abrechnung und Martin Schulz’ Rückzug lässt die SPD erodieren. Und das just zum Tourstart von Kevin Kühnert in Sachsen. Seit Monaten trommelt der Chef der Jungsozialisten gegen die Große Koalition. Bevor die Mitglieder abstimmen, will er sie überzeugen.

Wie Freitagabend in Leipzig. Die Sesselreihen in der Galerie sind voll. Wer keinen Platz bekommt, schaut beim Fenster rein, trotz Minustemperaturen. Umringt von Fotografen und Kameraleuten läuft der 28-Jährige federnden Schrittes die Tribüne hinunter. Den Rucksack ins Eck bugsiert. Einmal durchschnaufen, los geht’s.

Wer jetzt glaubt, der junge Politiker in Schlabberjeans und Sneakers teilt gleich kräftig gegen die Parteispitze in Berlin aus, irrt. Er erwähnt nicht einmal ihren Namen. In diesen Tagen erscheint Kühnert wie die einzige Stimme der Vernunft einer Partei, die dabei ist, sich öffentlich zu zerlegen. Er weiß das und bringt es an: "Mit welcher Ruhe und Sachlichkeit wir bei den Jusos in den vergangenen Monaten diskutiert haben, da können sich die anderen eine gehörige Scheibe davon abschneiden."

Das größere Drama

Viel schlimmer, so Kühnert an diesem Tag, seien doch die verlorenen Mitglieder, die SPD habe sich halbiert. Damit spricht er aus, was viele hier sorgt. Wie etwa Jürgen, Immobilienmakler und SPD-Mitglied aus Leipzig: "Endlich einer, der den Mund aufmacht. Vor vier Jahren waren die Jusos zu leise, da wollte auch keiner die Koalition." Das sichere nur Merkels Macht und stärke die rechten Ränder, sagt er in breitem sächsischen Dialekt. Was passiert, sähe man in Österreich: "Ihr habt jetzt die FPÖ in der Regierung."

Apropos. Die AfD hat in Sachsen stark zugelegt, daher wollte er zu Beginn seiner Tour hier herkommen, erklärt Kühnert. Die SPD müsse wieder erkennbar sein, "um hier einen Fuß auf den Boden zu bekommen". Reihenweise Kopfnicken.

Katja Pähle kann da nur schwer mithalten. Die Fraktionsführerin der SPD Sachsen-Anhalt ist Kühnerts Diskussionspartnerin und muss den Koalitionsvertrag verteidigen. Darin habe die SPD Schlimmeres verhindert, wie etwa bei der Flüchtlingspolitik, "sonst hätte sich die CSU durchgesetzt". Pähle gesteht zwar, dass sie selbst nicht zufrieden ist, "aber es war das Maximum, was wir mit der Union rausholen konnten".

Kühnert hilft ihr. Im Papier seien auch gute Punkte, wie die Erhöhung der Studienförderung. Aber jene Punkte, wo die SPD "wortbrüchig" gewesen sei, tauchten in "neuem Gewand" auf: "Solidarrente heißt jetzt Grundrente und steht den Menschen erst nach einer Bedarfsprüfung zu." Das tue sich niemand an, weil es beschäme. "Das hat die Union miteinberechnet." Kräftiger Applaus.

"Dann bist du in Rente, Kevin"

Nur einen überzeugt er heute sicher nicht. Manfred Werske, seit 53 Jahren SPD-Mitglied, braucht kein Mikro, laut genug ruft der 73-Jährige: "Da gab es mal einen, der war wie Du - Gerhard Schröder. Er hat auch geglaubt, es geht nur so und nicht anders." Werske habe mit ihm bei den Jusos gegen Helmut Schmidt revoltiert, als es um die NATO-Doppelbeschlüsse ging. Wenn ihr den stürzt, kommen lange die Schwarzen, hieß es, berichtet Werske. Doch er wollte es nicht glauben. Was folgte waren 16 Jahre Helmut Kohl. Sein Rat: "Ihr müsst die Koalition machen, die Kanzlerin ist schwach." Sonst sei die SPD weg, und "wenn sie wieder kommt, dann bist du in Rente, Kevin."

Dieser wirkte kurz erstaunt, der Schröder-Vergleich amüsiert ihn. Dann seziert er sachlich die vergangenen Koalitionen. Sein Fazit: Die Gemeinsamkeiten mit CDU/CSU seien mittlerweile aufgebraucht. Es brauche einen Neuanfang. Wie soll der aussehen, will ein Genosse in den hinteren Reihen wissen.

Zukunft: Rot-Rot-Grün?

Angstszenarien wie Neuwahlen hält Kühnert für Quatsch, sie werden aus "schnöden taktischen Gründen" hochgezogen. Er skizziert den weiten Weg zum Urnengang, der derzeit nur über den Bundespräsidenten führt. Kühnerts Vorschlag: eine Minderheitsregierung der Union mit Tolerierung der SPD. Es gebe viel, wo man sich einig sei etwa bei der Europapolitik, da könne man Vereinbarungen treffen. Im Gegenzug behalten die Sozialdemokraten ihre Kontrapunkten und Profil. Wie lange diese Konstellationen halten könnte, vermag er nicht zu sagen. Für die Zukunft sieht er jedenfalls Rot-Rot-Grün. Das funktioniere in Berlin gut. Es gebe bei der Linken offene Köpfe – Oskar Lafontaine, den "linken Spalter", zähle er nicht dazu.

Kühnerts Idee findet im Publikum Anklang. Doch dazu müsse man erst das Votum gegen die Große Koalition gewinnen. Kühnert freut sich über die tausenden neuen Mitglieder, die mitentscheiden. Aber, egal, wohin man tendiere, wichtig sei, bei der Partei zu bleiben – "damit von dem Laden noch was bleibt", sagt er. Es gehe nicht um Personen, sondern um Inhalte, referiert er weiter. Da platzt es aus einer Frau heraus: "Ja, ihr freut euch, aber wie viele bleiben denn?", schreit sie zornig. Kühnert erklärt: Beim Mitglieder-Entscheid 2013 seien 6000 bis 7000 in die Partei eingetreten, davon seien noch 90 Prozent dabei. "Okay", sagt sie. Alle lachen. "So liebe ich politische Diskussion", ruft er und formt mit den Fingern ein Herz in ihre Richtung.

Ganz entkommt er dem Personalchaos in der SPD aber nicht. Im KURIER-Gespräch sagt er, es sei nicht schön gelaufen. "Wir haben ein anderes Verfahren vereinbart, es sollte um Inhalte und nicht um Personal gehen." Nach Schulz’ Rückzug sehe er die Chance, dass sich das ändert. Voraussetzung ist: "Dass alle anderen an der Parteispitze verstehen, ihr persönliches Ego zurückzustellen. Wenn das gelingt, bekommen wir den Prozess noch über die Runde, ansonsten wird es schwierig."

Hintergrund: SPD-Basis stimmt über "GroKo" ab

Vom 20. Februar bis zum 2. März dürfen 463.723 SPD-Mitglieder via Briefwahl über den aktuellen Koalitionsvertrag abstimmen und damit auch, ob sich ihre Partei auf ein neues Bündnis mit CDU/CSU einlassen soll. Seit Jahresbeginn sind 24.339 neue Mitglieder dazu gekommen. Auch mit der Absicht gegen die Koalition zu stimmen, der Verein "NoGroKo" hat um sie geworben, er wird teils von Jusos und der SPD-Linken unterstützt. Das Ergebnis wird am 4. März bekannt gegeben und ist bei 20 Prozent Wahlbeteiligung verbindlich.

KURIER: In der SPD ist der Machtkampf eskaliert: Sigmar Gabriel kritisiert beleidigt die Partei-Spitze, weil Martin Schulz das Außenministerium übernehmen wollte. Jetzt hat dieser doch verzichtet. Welche Folgen hat das alles?

Thorsten Faas: Die alte Spitze der SPD gibt in der Tat ein schlechtes Bild ab. Das ist in jedem Fall Wasser auf die Mühlen derer, die fordern, die "SPD zu erneuern". Es hat aber potenziell weitergehende Folgen: Mit einer populistischen AfD als führende Oppositionspartei bedient der Streit natürlich auch genau die Vorwürfe, die von dieser Seite immer wieder vorgebracht werden.

Wie zum Beispiel die Vorurteile, es gehe Politikern eigentlich nur um sich selbst.

Die Gefahr besteht natürlich, weil auch in der Union ja durchaus ähnliche Debatten geführt werden. Man muss allerdings auch sagen, dass die Art und Weise, wie wir alle über die Koalitionsverhandlung sprechen – wer hat gewonnen? Wer hat verloren? – dieses zynische Politikbild ebenfalls befeuert. Dass es ohne Kompromisse nicht geht, kommt immer zu kurz.

Wie kommt die SPD aus dem Chaos wieder heraus?

Klar ist: Es muss gelingen, die Gräben zu schließen und auch die Kritiker am Ende wieder mitzunehmen. Dafür ist der Mitglieder-Entscheidaber potenziell kontraproduktiv, weil er vielleicht – je nach Ausgang – den Riss durch die Partei noch mal sehr deutlich machen könnte.

Inwiefern können die aktuellen Turbulenzen den anstehenden Mitglieder-Entscheid beeinflussen, oder sind die Kritiker nach Schulz' Abgang besänftigt?

Die Basis ist die große Unbekannte. Die Geschehnisse der letzten Woche schaffen gleichwohl auch parteiintern Möglichkeiten für die Kritiker. Allerdings dürften viele Mitglieder auch überlegen, dass die GroKo das insgesamt kleinere Übel sein könnte. Trotzdem: Es bleibt spannend.

Thorsten Faas ist Wahlforscher und Professor für Politische Soziologie der Bundesrepublik Deutschland am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin.

Kommentare