Der Grundstein wurde während der Kolonialzeit gelegt, als die Briten in Kaschmir ein neues Fürstengeschlecht installierten. „Das haben sie häufiger gemacht, haben den Kontinent nie zur Gänze beherrscht, die Fürsten an der Macht gelassen und so indirekt geherrscht. Sie haben dort, wo es eine Muslimmehrheit gab, einen Hindu, der ihnen gegenüber loyal war, installiert“, sagt Südasien-Wissenschaftler Pierre Gottschlich von der Universität Rostock im KURIER-Gespräch.
Nach Abzug der Briten 1947 hatte man am 15. August nicht zwei neue Staaten – Pakistan und Indien –, sondern insgesamt 565. „Die meisten haben sich ganz schnell Pakistan oder Indien angeschlossen. Doch einige große Gebiete waren unschlüssig. Der Maharaja Hari Singh wollte Kaschmir unabhängig und zu einer Schweiz des Subkontinents machen“, erklärt Gottschlich. Mit dem Einmarsch pakistanischer Freischärler war dieser Traum zu Ende, Singh bat Indien um Hilfe. Die Regierung willigte ein, dafür wurde ein Anschlussvertrag an Indien geschlossen.
Es folgte der erste Krieg zwischen Pakistan und Indien um Kaschmir, der 1949 mit der Waffenstillstandslinie endete. Als das Vertragswerk unterschrieben wurde, bot Indien an, dass man irgendwann eine Volksabstimmung über den Status Kaschmirs abhalten könnte. Doch diese hat nie stattgefunden, da es wahrscheinlicher ist, dass sich die mehrheitlich muslimische Bevölkerung an Pakistan anschließen würde.
Warum hat Indien gerade jetzt den Sonderstatus des Bundesstaats aufgehoben?
Ein wichtiger Punkt dürfte US-Präsident Donald Trump sein, der sich vor wenigen Tagen als Vermittler im Kaschmir-Konflikt angeboten hat. Das lehnte Indien sofort ab.
„Die indische Regierung hat immer versucht, eine Einmischung von außen zu vermeiden. Wenn der Konflikt internationalisiert würde, vor allem die UN stärker involviert würde, käme die Frage der Volksabstimmung viel wahrscheinlicher auf den Tisch. Und das käme Indien derzeit ungelegen. Es befürchtet nicht ganz zu Unrecht, dass eine Volksabstimmung für Pakistan ausgehen könnte“, sagt Gottschlich.
Welche Schritte wird Indien jetzt setzen?
Der Sonderstatus hat Nicht-Kaschmiris bislang verboten, Land in Kaschmir zu erwerben. Die Aufhebung wird dazu führen, dass sich viele Hindus in der Provinz ansiedeln und sich die Bevölkerung langfristig verändert. Ein weiterer Schritt wird die Umformung von einem Bundesstaat in ein Unionsterritorium sein. Gottschlich: „Dadurch kann Delhi dort direkt eingreifen und mitregieren.“Langfristig könnte der indische Vorstoß den Konflikt jedoch beruhigen und die Waffenstillstandslinie von 1949 zu einer offiziellen Grenze werden.
Was hat Artikel 370 Kaschmir genützt?
„Der Sonderstatus war immer ein zweischneidiges Schwert“, sagt der Indien-Experte. Auf der einen Seite habe er der indischen Regierung bestimmte Rechte gegeben, hineinzuregieren, auf der anderen Seite gab es besondere Entwicklungsgelder und Infrastruktur für Kultur und Sprache. Gottschlich: „Diese sind für viele Kaschmiris von großer Bedeutung – nicht nur für Muslime.“
Die kaschmirische Identität, die auch religionsübergreifend ist, spielt laut Gottschlich eine wichtige Rolle: „Es ist ja auch kein Zufall, dass jetzt nach Verkündung der neuen Maßnahme einige der wichtigen Politiker unter Hausarrest gestellt wurden“. Unter ihnen sind zwei frühere Ministerpräsidenten Kaschmirs. „Diese stehen sehr stark für die kaschmirische Identität, wollen weder nach Indien, noch nach Pakistan. Viele Kaschmiris wären – wenn sie die Wahl hätten – am liebsten unabhängig.“
Wie hoch ist das Risiko eines Krieges zwischen den Atommächten Indien und Pakistan?
Gottschlich hält einen zwischenstaatlichen Krieg für nahezu ausgeschlossen: „Es gab in der Vergangenheit viele gefährliche Situationen, die nicht in einem großen Krieg ausgeartet sind, weil auf beiden Seiten die politischen Führungskräfte klug genug gewesen sind, von einer direkten Konfrontation zurückzuschrecken.“ Das habe man bereits zweimal 2019 gesehen: „Zum einen der verheerende Anschlag mit mehr als 40 Toten auf der indischen Seite Kaschmirs, die indischen Luftangriffe im Februar. Krieg wollen beide Länder nicht.“
Auch die mächtigen Verbündeten beider Länder – die USA auf indischer und China auf pakistanischer Seite – haben kein Interesse an einem offenen Konflikt. „Was wir sehen werden, ist Gewalt auf einem anderen Niveau: Terroranschläge, massive Militärpräsenz auf indischer Seite und mehr Tote“, sagt Gottschlich.
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