Karadzić schuldig wegen Völkermordes in Srebrenica
Der bosnisch-serbische Ex-Präsident Radovan Karadzic ist vom Haager UNO-Tribunal zu 40 Jahren Haft wegen des Völkermordes in Srebrenica verurteilt worden. Karadzic sei "strafrechtlich verantwortlich" für die Tötung von 8.000 Männern und Burschen in der ostbosnischen Stadt, sagte Senatsvorsitzender O-Gon Kwo am Donnerstag. Karadzic' Anwalt kündigte umgehend Berufung an.
"Alle Nicht-Serben vertreiben"
"Er verfolgte gemeinsam mit anderen den Plan, alle Nicht-Serben dauerhaft von bosnischem Gebiet zu vertreiben", erklärte der südkoreanische Richter. Unter anderem wurde Karadzic auch die jahrelange Belagerung der bosnischen Hauptstadt Sarajevo zur Last gelegt. Insgesamt wurde Karadzic in zehn von elf Anklagepunkten schuldig gesprochen, lediglich vom Vorwurf des Völkermordes in den ostbosnischen Gemeinden Kljuc, Sanski Most, Prijedor, Vlasenica, Foca, Zvornik und Bratunac wurde er freigesprochen.
Schlimmstes Verbrechen seit Zweitem Weltkrieg
Angehörige der Opfer hörten im Gerichtssaal gebannt zu, als die Ereignisse in Srebrenica zur Sprache kamen. Einer von ihnen wischte sich Tränen aus den Augen, als der Richter beschrieb, wie die Männer und Burschen von ihren Familien getrennt wurden. Unter Karadzics Oberbefehl stürmten serbische Truppen 1995 die unter Kontrolle niederländischer UNO-Soldaten stehende Schutzzone im bosnischen Srebrenica und ermordeten 8000 muslimische Burschen und Männer. Das Massaker von Srebrenica gilt als schlimmstes Kriegsverbrechen in Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Wegen Srebrenica hatte das UNO-Tribunal bereits mehrere lebenslängliche Urteile gesprochen.
Der Anwalt von Karadzic sagte, dass der bosnisch-serbische Ex-Präsident in Berufung gehen werde. Er versuchte noch kurz vor der Urteilsverkündung, die Vorwürfe herunterzuspielen. So seien in Srebrenica nur einige hundert Personen erschossen worden, sagte er dem Internetportal BRIN am Mittwoch. "Keine Übertreibung kann uns helfen, Verständnis und Frieden unter uns zu errichten", sagte Karadzic. Sarajevo sei während der 44-monatigen Belagerung nicht absichtlich beschossen worden, und die Internierung von Nicht-Serben in einem Konzentrationslager habe deren Schutz gedient.
Völkermord als Tatbestand
Völkermord ist seit Inkrafttreten der "Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes" von 1948 ein Straftatbestand im Völkerrecht. Gemäß Artikel 2 der UNO-Konvention ist es ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, "begangen in der Absicht, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe ganz oder teilweise zu zerstören". Dazu gehören neben der systematischen Tötung von Menschen auch das Verursachen schwerer körperlicher oder seelischer Leiden sowie das vorsätzliche Schaffen von Lebensbedingungen zur Zerstörung der betroffenen Minderheit. Auch die zwangsweise Geburtenverhinderung in dieser Ethnie oder Zwangsadoptionen von Kindern können den Tatbestand des Völkermordes erfüllen. Wer die Maßnahmen lediglich beabsichtigt, macht sich noch nicht schuldig. Wenn die Taten aber begangen werden, ist es für die Strafverfolgung unerheblich, wie viele Menschen davon betroffen sind.
UNO-Generalsekretär Ban Ki-moon begrüßte den Schuldspruch als "historischen Tag für die internationale Justiz". Der UNO-Hochkommissar für Menschenrechte, Said Raad al-Hussein, wertete die Verurteilung als "kräftige Manifestation des unerbittlichen Bekenntnisses der internationalen Gemeinschaft, Täter zur Verantwortung zu ziehen".
Während die syrische Opposition ihre Forderung nach einem Kriegsverbrecherprozess gegen Machthaber Bashar al-Assad bekräftigte, äußerte sich auch der Jüdische Weltkongress (WJC) erfreut. WJC-Präsident Ronald Lauder beklagte, dass Gräueltaten wie jene im Bosnien-Krieg "heute immer noch stattfinden, etwa in Syrien oder dem Irak". "Die Welt weiß, dass es passiert, schweigt aber viel zu oft dazu."
Bosnische Serben befürchten Zuspitzung
Negativ fielen die Reaktionen von serbischer Seite aus. Der bosnisch-serbische Präsident Milorad Dodik sagte, dass das Urteil zu einer "weiteren Zuspitzung" der Situation in Bosnien-Herzegowina führen werde. Der Vorsitzende der von Karadzic gegründeten Partei SDS, Mladen Bosic, sprach von "Unrecht". Der serbische Regierungschef Aleksandar Vucic setzte für Freitag eine Sondersitzung seines Kabinetts an. In einer ersten Reaktion warnte er davor, den Schuldspruch für Angriffe auf die von Karadzic errichtete bosnische Serbenrepublik zu nützen.
Der internationale Bosnien-Beauftragte Valentin Inzko rief die zerstrittenen Volksgruppen in Bosnien-Herzegowina zur Versöhnung auf. "Lasst uns daran arbeiten, dass nach diesem Urteil und in Erinnerung an die dunkelsten Zeiten Bosnien-Herzegowinas die Wahrheit, die Freiheit und die Versöhnung die Oberhand behalten", erklärte der österreichische Diplomat. Er kritisierte diejenigen, "die Kriegsverbrecher glorifizieren, das Böse relativieren, die sich von den grundlegendsten menschlichen Werten ausgenommen und damit aus der zivilisierten Welt ausgeschlossen haben".
Die Grüne Europaabgeordnete Ulrike Lunacek sagte, dass mit der Verurteilung Karadzic' "einer der überfälligsten und wichtigsten Schritte am langen Weg der Aufarbeitung der Jugoslawien-Kriege gesetzt" worden sei. Sie kritisierte, dass die bosnisch-serbischen Behörden erst kürzlich ein Studentenheim nach Karadzic benannt hätten. Dies zeige, dass es gerade auf serbischer Seite immer noch an Versöhnungsbereitschaft fehle.
"Es geht ihm gut, er hat uns allerdings für alle Zeiten verurteilt", kommentierte die Angehörige von sechs Srebrenica-Todesopfern, Mejra Djogaz, gegenüber dem TV-Sender N1. Im Srebrenica-Massaker hatte Djogaz nicht nur ihren Mann und drei Söhne, sondern auch einen Enkel und ihren Vater verloren. Sie hätten niemanden etwas Übles angetan, sagte sie
In dem seit dem Kriegsende als Ost-Sarajevo bekannten, von Serben bewohnten Stadtviertel der bosnischen Hauptstadt waren am Donnerstag Plakate mit Abbildungen von Karadzic und dem serbischen Ultranationalisten Vojislav Seselj und der Unterschrift "Serbische Helden" aufgetaucht. Unterzeichnet wurden sie von der Serbischen Radikalen Partei Seseljs. Für den Parteichef soll in Den Haag am kommenden Donnerstag das Urteil verkündet werden. Kurz nach der Urteilsverkündung hat Seselj seine Anhänger im Belgrader Stadtzentrum versammelt.
Jenes Neu-Belgrader Lokal, das von Karadzic während seiner langjährigen Flucht mit Vorliebe aufgesucht wurde, war am heutigen Donnerstag fast menschenleer. Der Haager Angeklagte war allerdings durch zahlreiche Fotografien an den Wänden vertreten. Dass sich seine Anhänger nicht in einer größeren Anzahl versammelten, war von einem Kellner gegenüber Medien durch das Fehlen eines TV-Gerätes erläutert worden. Die Urteilsverkündung wurde in Serbien und Bosnien-Herzegowina nämlich direkt übertragen.
Der Begriff Völkermord ist auch unter der Bezeichnung "Genozid" geläufig. "Genozid" ist aus dem griechischen "genos" (Herkunft) und dem lateinischen "caedere" (töten) zusammengesetzt. Der jüdische Anwalt Raphael Lemkin prägte das Wort im Jahr 1944, um eine Grundlage für die Bestrafung der von den Nazis begangenen Verbrechen zu legen.
Völkermord umfasst nach Artikel 2 der UNO-Konvention 260 aus dem Jahr 1948 Handlungen gegen Mitglieder einer nationalen, ethnischen, rassischen oder religiösen Gruppe, die in der Absicht begangen werden, die Gruppe ganz oder zum Teil auszulöschen. Mit der Konvention 260 wurde der Völkermord international geächtet.
Zu den Straftatbeständen in der Völkermordkonvention gehören das Töten, das Zufügen ernsthafter körperlicher oder geistiger Schäden, das Auferlegen von Lebensbedingungen, die auf die völlige oder teilweise physische Zerstörung einer Gruppe abzielen, sowie die Anordnung von Maßnahmen zur Geburtenverhinderung und Verschleppung von Kindern.
Das weiße Haar sorgfältig gekämmt, den hellen Schlips korrekt gebunden, das Hemd blütenweiß, das Gesicht angespannt: Radovan Karadzic war sorgfältig auf seinen großen Auftritt vor Gericht vorbereitet. Es sollte sein wichtigster sein. Das UN-Kriegsverbrechertribunal zum früheren Jugoslawien in Den Haag bestimmte am Donnerstag das Schicksal des 70-Jährigen.
Dann, nur für einen kurzen Moment, entgleisten die Züge des Angeklagten. Er schien fassungslos, als der Vorsitzende Richter O-Gon Kwon die entscheidenden Worte sprach: "Das Gericht verurteilt den Angeklagten hiermit zu einer Gesamtstrafe von 40 Jahren Gefängnis."
Der ehemalige Serbenführer ist schuldig für die schlimmsten Verbrechen, die das internationale Recht kennt: Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen.
Das Urteil fügte zur Karriere des Radovan Karadzic ein neues Kapitel hinzu: Einst Psychiater und Poet, dann Politiker und Präsident - und seit dem 24. März 2016 offiziell ein tausendfacher Mörder.
"Politische Architekt des Massenmordes"
Die Verbrechen wurden vor mehr als 20 Jahren begangen. Dennoch meint der Chefankläger Serge Brammertz: "Endlich Gerechtigkeit für die Opfer." Für ihn ist Karadzic "der politische Architekt des Massenmordes". Und das hat das Gericht bestätigt. Auch ein Politiker - Karadzic war Präsident der selbsternannten bosnisch-serbischen Republik - wird für die schlimmsten Verbrechen zur Verantwortung gezogen, auch wenn er selbst persönlich keinen Menschen getötet hat.
Seine Politik aber machte die Verbrechen erst möglich. Er wollte sein Ziel, ein ethnisch-reines Großserbien, mit allen Mitteln erreichen. Hinter dem zynischen Begriff "ethnische Säuberung" verbargen sich entsetzliche Verbrechen: Vertreibung, Massen-Vergewaltigungen, Plünderungen, Folter, Belagerung von Städten wie Sarajevo, und eben auch der Massenmord von Srebrenica vom Juli 1995.
Viele Menschen leiden noch heute mehr als 20 Jahre später unter den Folgen. Eine Strafe von 40 Jahren ist für viele Opfer viel zu wenig. In Den Haag reagierten ehemalige Gefangene und die "Mütter von Srebrenica" wütend und enttäuscht. "Warum haben sie die Morde in unseren Städten nicht als Völkermord anerkannt?", fragte eine Sprecherin der Opfer.
Chefankläger Brammertz versteht die Frustration: "Doch Genozid ist nur eine juristische Qualifikation." Wichtiger sei, dass Karadzic auch für alle anderen Verbrechen individuell schuldig gesprochen wurde. Und die 40 Jahre? "Bei einem Herrn von 70 sind 40 Jahre Haft kaum ein Unterschied zu lebenslang."
Ironischerweise verdankt der Kriegsverbrecher Karadzic die Reduzierung der Strafe seinem früheren Leben als Politiker. Als Teil des internationalen Friedensabkommens war er 1996 freiwillig von allen Ämtern zurückgetreten. Das werteten die Richter nun als mildernden Umstand.
Prozess dauerte sechs Jahre
Sechs lange Jahre dauerte der Prozess - viel zu lange, meint Chefankläger Brammertz. Für die Opfer und ihre Angehörigen aber ist es nicht zu spät. "Wir hoffen dass das endlich zu einer Versöhnung in Bosnien-Herzegowina und auf dem Balkan führt", sagte eine Frau.
Doch dafür tut Serbien viel zu wenig, klagte der Ankläger. "Es gibt immer noch Politiker, die den Genozid leugnen. Wie soll es da jemals zu einer Aussöhnung kommen?"
Und auch das Tribunal hat das schwarze Kapitel von Srebrenica noch nicht abgeschlossen. Ex-General Ratko Mladic, der militärisch verantwortlich ist, steht noch vor Gericht - im nächsten Jahr hört er sein Urteil. Und Karadzic wird wohl Berufung einlegen. Er hatte sich mit großer Leidenschaft selbst verteidigt und im Gerichtssaal eine neue Bühne gefunden. Die wird er nicht so schnell aufgeben.
(Von Annette Birschel/dpa)
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