Kampf um die Zukunft Ägyptens

epa03492781 Egyptian protesters of Muslim Brotherhood and Islamists shout slogans in support of President Mohamed Morsi's contentious constitutional declaration, during a rally at Cairo University in Cairo, Egypt, 01 December 2012. Thousands of Egyptians, mainly Islamists, were on 01 December flocking to Cairo for a big rally backing President Morsi's sweeping new powers and a controversial draft constitution. EPA/KHALED ELFIQI
Reportage von Antonia Rados: Die Proteste halten Kairo in Atem. Die einen fürchten das Chaos, die anderen den Gottesstaat.

Es ist 3 Uhr nachts. Im Halbschlaf beobachte ich vom Balkon meines Hotelzimmers aus, wie ein Bulldozer schräg gegenüber mit Betonklötzen eine Straße abriegelt, um Innenministerium und Parlament abzuschirmen von jugendlichen Randalierern. Die schreien in die Nacht: „Nieder mit Mursi!“ so wie sie früher schrien: „Nieder mit Mubarak!“. Was er denn wolle, fragte ich am Nachmittag einen der Vorstadt-Rowdys, aber da schoss die Polizei ein paar Tränengasbomben in unsere Richtung und vertrieb uns alle zum Nilufer.

Als ich im Februar 2011 auf dem berühmten Tahrir-Platz die Proteste miterlebte, wollte Kairo die Revolution. Heute will es Ruhe. Damals hupten Autofahrer solidarisch. Der Duft von Freiheit hing in der Luft. Jetzt sehe ich besorgte Gesichter. Was fürchten die Ägypter mehr? Chaos im bevölkerungsstärksten Land der arabischen Welt? Oder einen islamischen Gottesstaat?

Umbruch

Man muss naiv sein, um zu glauben, die Stimmung hat sich seit Mohammed Mursis Wahl zum Präsidenten im Juni 2012 nicht verändert: „Die Gesellschaft ist islamischer geworden“, sagt mir ein Reiseveranstalter. Obwohl es nicht im Koran steht, denkt die Abgeordnete von Mursis Moslembrüderschaft, die kämpferische Al Azza Gharf, im Fernsehen laut über die Legalisierung der Beschneidung für Frauen nach. Die staatliche Fluglinie Egypt Air erlaubt das Kopftuchtragen, und Schauspielerinnen haben Angst vor einer Zensur der Kunst und des Körpers, obwohl es die gar nicht gibt oder besser, noch nicht gibt. Der Kampf um die Zukunft Ägyptens ist eben auch eine Frage der sichtbaren Symbole, also der Bekleidung. Frauen der Moslembrüder, wie Gharf, tragen Kopftücher und übergroße Kleider: „Klassisch islamischer Schick“, spottet eine Bekannte. Sie trägt hingegen Jeans zwei Nummern zu klein.

Enge Bekleidung, ob Armani-Jeans oder T-Shirts, sind das Markenzeichen auf dem Tahrir-Platz bei den Massen-Protesten gegen Mursi. Studenten, Ärzte oder junge Damen aus dem Nobel-Bezirk Zamalek sind da, ausgestattet mit iPhones.

Dazwischen Überlebende des Mubarak-Regimes, erkennbar an ihren schlecht geschnittenen Anzügen. Nach der Revolution wurde Mubaraks Stasi in die Früh-Rente geschickt. Die Anti-Mursi- Proteste kommen ihr wie gerufen: „Wir wollen die Mubarak-Leute nicht dabei haben“, sagt mir ein Aktivist. Wie es verhindern? Mohammed el-Baradei scheint alles andere als ein starker Oppositionsführer zu sein, obwohl er als Held gilt – im Westen.

"Twitter-Präsident“

Die ironischen Orientalen nennen el-Baradei den Twitter-Präsidenten. Kein Mann für das Ägypten von unten – der Mehrheit des Landes, die von zwei Euro pro Tag lebt. Die gehört der Moslembruderschaft. Organisiert wie eine altkommunistische Kaderpartei hat sie 80 Jahre Folter und Gefängnis überlebt. So etwas bindet. Wenn jemand weiß, was das 80-Millionen-Volk braucht, sind sie es: „Es geht um Brot und Butter“, sagt mir Mursis Regierungschef Hishem Kandil.

Was er nicht sagt, aber meint: Jede Revolution ist ein Verteilungskampf. Und jetzt ist unser Ägypten, das da unten, dran. Kandil weiß, wie wichtig der soeben erteilte Kredit des Währungsfonds für Ägypten ist in der Höhe von 4,8 Milliarden Dollar. Was sind die Ängste der Kopten, Frauen und des Westens im Vergleich zu dem Vulkan, auf dem Ägypten tanzt? Was, sagt mir ein Journalist, wenn die Millionen nicht mehr auf Mursi hören? So oder so, verspricht mir Kandil, man werde keinen islamischen Staat errichten.

Während die Moslembrüder zuerst ihre Basis ernähren wollen, nützen die Gegner die Chance, sie vielleicht wieder von der Macht zu vertreiben: „Die Liberalen haben ihre Niederlagen nicht verkraftet“, kritisiert der Ägypter Yasser al Shimy. „Jetzt versuchen sie den Moslembrüdern das Recht abzusprechen, zu regieren.“ In der Lobby meines Hotels am Tahrir- Platz liegt der Geruch von Tränengas, wie ein Vorzeichen eines drohenden Chaos, wenn die Moslembrüder Ägypten nicht mehr kontrollieren können. Touristen ziehen in Panik aus.


Mit seiner Unterschrift unter die neue Verfassung machte Mursi den Weg frei für eine Volksabstimmung am 15. Dezember. Die Opposition, die seit Tagen gegen den Staatschef demonstriert, hat zum Boykott des Referendums aufgerufen. Ihr Protest richtet sich dagegen, dass Mursi seine Vollmachten per Dekret ausgeweitet und die Justiz entmachtet hat. Liberale, Linke und gemäßigte Muslime werfen der islamistischen Mehrheit in der Verfassunggebenden Versammlung vor, sie zu unterdrücken. Mursi selbst rief am Samstagabend zu einem "ernsthaften nationalen Dialog" zur Beendigung der Spannungen auf.

Update: Das ägyptische Verfassungsgericht hat am Sonntag seine Arbeit wegen anhaltender "psychologischer und materieller Pressionen" ausgesetzt. Die Entscheidung der Verfassungsrichter wurde am Sonntag in Kairo bekannt gegeben, nachdem Anhänger von Präsident Mohammed Mursi die Richter daran hinderten, zu Beratungen zusammenzukommen. Die Verfassungsrichter sollten eigentlich über die Rechtmäßigkeit der Verfassungsgebenden Versammlung entscheiden, die Freitag früh im Eilverfahren einstimmig den Entwurf für eine neue Verfassung angenommen hatte.

Die Richter konnten sich am Sonntag nicht einmal treffen, da sie wegen Hunderter Demonstranten nicht ins Gerichtsgebäude gelangten. Wie ein AFP-Reporter beobachtete, blockierten die Protestierenden den Zugang sowie die Straße, die zum Gericht führt. (APA)

Am Samstag war die Stimmung in Kairo zum Zerreißen gespannt: Die Proteste von Oppositionellen und jugendlichen Revolutionären gegen Präsident Mohammed Mursi gingen am Tahrir-Platz weiter; zur gleichen Zeit marschierten aus ganz Ägypten Tausende Anhänger von Mursis Moslembrüdern Richtung Hauptstadt. Diese hatten sich bereit erklärt, den Tahrir-Platz zu meiden. Zwei Menschen kamen in der vergangenen Woche bereits bei Auseinandersetzungen ums Leben. Der Streit um den Verfassungsentwurf (am Freitag von der islamistisch dominierten Verfassungsversammlung gebilligt) und Mursis autoritärer Politikstil haben das Land gespalten. Mursi hatte die Justiz de facto entmachtet. Offenbar aus diesen Gründen schloss sich am Freitag Samir Morkos, ein hochrangiger Berater Mursis, der Opposition an.

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