Der Whistleblower wird von rechts und links mit dem toten Kremlkritiker gleichgesetzt. Der Vergleich hinkt – Kritik an der juristischen Jagd auf Assange ist dennoch angebracht.
Umringt von Fotografen, Kameraleuten und Journalisten steht Stella Assange, Ehefrau des Wikileaks-Gründers und Menschenrechtsanwältin, vor dem Gerichtsgebäude des Londoner High Courts. "Dieser Fall ist ein Eingeständnis der Vereinigten Staaten, dass sie investigativen Journalismus kriminalisieren." Dann folgt ein Satz, der aufhorchen lässt: "Was Nawalny passiert ist, kann auch Julian passieren. Er muss freigelassen werden, diese Farce muss enden."
Stella Assange vergleicht den Fall ihres Mannes mit dem des in Haft verstorbenen Kreml-Kritikers Alexej Nawalny. Diese Kritik gegenüber den USA – und dem "scheinheiligen Westen" im Allgemeinen – griffen auch rechtspopulistische und weit links stehende Medien und Politiker auf: von der Schweizer Weltwoche über den rechtsextremen Thüringer AfD-Landeschef Björn Höcke ("Heute ist es #Nawalny im "autokratischen Rußland" morgen ist es vielleicht schon Julian #Assange im "freien Westen") bis zur Gefolgschaft des Bündnisses um Sahra Wagenknecht und zur linken Gruppierung DiEM25 des ehemaligen griechischen Finanzministers Yanis Varoufakis.
Indirekt wird damit das US-Justizsystem mit dem in Russland gleichgesetzt – und ein immer totalitärer agierender Staat, in dem Scheinprozesse zum Alltag gehören, relativiert.
Die US-Regierung will dem Australier den Prozess machen. Der Vorwurf: Spionage und Geheimnisverrat. Assange hat ab 2010 Hunderttausende geheime Dokumente zu US-Militäreinsätzen im Irak und in Afghanistan auf der Enthüllungsplattform WikiLeaks veröffentlicht. Er soll damit das Leben von US-Informanten in Gefahr gebracht zu haben. Die Dokumente zeigen aber auch amerikanische Kriegsverbrechen, etwa die Tötung von Zivilisten, auf. Aktivisten sehen einen Angriff auf die Pressefreiheit, sprechen von einem "Rachefeldzug" der USA. 175 Jahre Haft drohen Assange in den USA.
Nawalny war Russlands Präsidenten Wladimir Putin wegen seines politischen Engagements, nicht wegen Steuervergehen und Extremismus, den offiziellen Gründen für seine Verurteilung, ein Dorn im Auge. Er wurde, nachdem er 2020 einen offenbar von Geheimdiensten verübten Giftanschlag überlebt hatte, in diverse Straflager gesteckt, das letzte, besonders grausame in Sibirien überlebte er nicht. Eine echte Chance auf Gegenwehr hatte er nicht.
Das ist bei Julian Assange anders. Er wird unter anderem wegen strafrechtlich haltbarer Anklagepunkte angeklagt, wie der Gefährdung von Einzelpersonen, die für den US-Geheimdienst tätig waren und deren Namen er auf seiner Enthüllungsplattform offenbart haben soll. In einem demokratischen Rechtsstaat kann er sich juristisch zur Wehr setzen.
Fundierte Kritik
Nichtsdestotrotz kann man die juristische Jagd auf den Whistleblower, die mittlerweile schon 14 Jahre andauert, als politisch motiviert kritisieren. Das unverhältnismäßige Strafmaß, das Assange in den USA droht – 175 Jahre –, die Dauer seines Verfahrens und die Umstände seiner Auslieferungshaft im Londoner Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh, in dem er seit fünf Jahren gemeinsam mit Terroristen und Schwerverbrechern sitzt, davon 21 Stunden am Tag in Isolationshaft: All das sei einer Demokratie und eines Rechtsstaates nicht würdig, sagen Juristen und Menschenrechtsanwälte. Selbst die australische Regierung, eigentlich treuer Alliierter der USA, setzt sich inzwischen für eine Freilassung ihres Staatsbürgers ein.
In den vergangenen zwei Tagen hat das Londoner High Court über Assanges Berufung gegen die Auslieferung an die USA verhandelt. Sollte dieser nicht stattgegeben werden, bleibt ihm nur mehr der Weg zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Mit einem Urteil wird in Wochen bis Monaten gerechnet.
Der deutsch-türkische Journalist Deniz Yücel, der selbst Bekanntschaft mit journalistischer Zensur machte, wegen "Terrorpropaganda" in einem türkischen Gefängnis einsaß, nennt in der Welt den Assange-Prozess eine Verhandlung über "die Glaubwürdigkeit des Westens". Es liege in der Hand des Londoner Gerichts, "zu beweisen, dass Rechtsstaatlichkeit und Pressefreiheit keine Propagandalüge sind, wie Putin und seine Anhänger in Deutschland und anderswo glauben", argumentiert er.
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