Enttäuschte Hoffnungen in Kroatien

Am 1. Juli 2013 trat Kroatien der EU bei. Beim Referendum davor hatten nur 43 Prozent der Kroaten abgestimmt
Nach einem Jahr in der EU spüren die meisten Kroaten noch keinen Aufwind.

Ivan Jaric streift sich die Handschuhe über und sortiert Fahrradschläuche. Langsam und konzentriert. "Die Mitgliedschaft in der Europäischen Union existiert nur auf dem Papier", sagt der 32-Jährige mit ruhiger Stimme. Gemeinsam mit einem Freund betreibt er ein Fahrradgeschäft in Vukovar, zirka 300 Kilometer von Zagreb entfernt.

Die Kleinstadt liegt in Ostslawonien. Einst die Kornkammer des Landes, sieht man heute viele verfallene Höfe, brachliegende Felder und Häuser mit faustgroßen Einschusslöchern. "Es hat sich nichts verändert", sagt Ivan. "Für manche Leute ist der Krieg hier noch nicht vorbei." Damit meint er nicht nur die sichtbaren Narben an den Häusern, die Geschoße serbischer Milizen und der jugoslawischen Armee zwischen 1991 und 1995 hinterließen.

Die kroatische Bevölkerung und die serbische Minderheit (34,9 Prozent) leben nebeneinander in zwei Welten. Es gibt separate Kindergärten und Schulen. Vor Monaten gingen Kriegsveteranen auf die Straße und protestierten gegen zweisprachige Ortstafeln. Für Ivan ein Grund mehr, Vukovar zu verlassen. "Ich habe genug von dieser Stadt. Die Stimmung ist schlecht, die Leute haben keine Arbeit. Ich will nicht, dass meine Kinder einmal hier aufwachsen." Obwohl sein Geschäft gut läuft und, wie er sagt, vom freien Marktzugang profitiert, will er nach Zagreb ziehen.

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Dort arbeitet Antonija Petricusic an der juridischen Fakultät. Die Soziologin und Juristin erklärt den Pessimismus der Bevölkerung: "Die Beitrittsverhandlungen zogen sich in die Länge, die Mitgliedschaft wurde als Allheilmittel herbeigesehnt, die Erwartungen waren hoch. Nun merken die Menschen keine unmittelbaren Auswirkungen und sind enttäuscht. Klar, andere Länder profitierten, allerdings war das zu anderen Zeiten. Wir stecken seit sechs Jahren in der Krise." Auf Enttäuschung folgte Desinteresse.

"Die Menschen sind zu wenig informiert. Es braucht eine Partei, die diesen Spirit – warum die Europäische Union gut ist – vermittelt." Im vergangenen Europawahlkampf gelang dies nicht.

Falsches Bild

Jasna Maric Krajacic, Pressesprecherin im Haus der Europäischen Union in Zagreb, bestätigt, dass die Parteien bewusst wenig in den Walkampf investierten und informierten. "Die Wahlen waren für die Politiker nicht relevant, da sie mit einer geringen Wahlbeteiligung rechneten." Krajacic ist zudem überzeugt, dass viele ein falsches Bild von der EU haben: "Sie hat einen friedensstiftenden Hintergrund und ist nicht entstanden, um einfach so in Länder zu investieren, dazu braucht es einen Rahmen und es kommt auf den Markt an – der ist hier klein." Dennoch will sie weiterhin versuchen die Menschen zu überzeugen. "Das EU-Parlament ist sehr bürgernah - das müssen wir ihnen noch näher bringen." Ein bis zwei Schulklassen kommen pro Woche in das Europahaus. Krajacic berichtet, dass vor allem junge Menschen skeptisch und wenig informiert sind. "Man sollte wie in Montenegro freie Wahlfächer zu EU-Themen anbieten."

Zurück in Vukovar. Ivans Freundin Ana kommt ins Geschäft. Angesprochen auf die Europa-Wahlen im Mai, reagiert sie verwundert. "Die waren doch vor einem Jahr?" Sie zuckt mit den Schultern. Politik ist ihr nicht so wichtig, sagt sie. Seit zwei Wochen ist die 28-Jährige arbeitslos. Zuvor arbeitete sie als Kellnerin. Kroatien hat nach Griechenland und Spanien die dritthöchste Jugendarbeitslosenquote im EU-Raum.

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Ana spricht nahezu perfekt Deutsch. Im Alter von fünf Jahren flüchtete sie mit ihren Eltern nach Bayern und wurde dort eingeschult. "Ich kann mich noch an die ersten Bomben erinnern, als wir flüchteten und an die zerstörten Häuser, als wir wieder zurückkamen." Sieben Jahre waren sie fort aus Vukovar. Die Zeit nach der Rückkehr war schwierig für sie, nicht nur wegen der schwachen Kroatischkenntnisse. "Meine Mutter hätte gerne, dass ich Lehrerin werde. Der Job als Kellnerin war okay, vielleicht mache ich später noch eine Ausbildung." Sie zieht einmal tief an ihrer Zigarette. "Weißt du, vielleicht liegt es am Krieg, an den Umzügen, dass ich einfach nicht weiß, was ich will."

Im Ausland studieren

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Student Ivan Blazevic weiß hingegen, was er will. Der 23-Jährige aus Zagreb wird sich für ein Auslandssemester bewerben – entweder in Österreich oder Deutschland. Seit dem Beitritt gibt es mehr Abkommen für Austauschprogramme mit Unis in der EU. Neben seinem Jus-Studium engagiert er sich bei "Gong", der größten NGO des Landes. Sie führt seit 15 Jahren Wahlbeobachtungen durch, rief zuletzt als einzige NGO via Fernsehspots auf, wählen zu gehen. Dass viele Menschen in seinem Alter keine Arbeit finden, schwarzarbeiten oder im Müll nach Plastikflaschen sammeln, macht Ivan Sorgen. Durch sein Engagement bei der NGO erhofft er sich bessere Chancen, um später einmal als Menschenrechtsanwalt zu arbeiten.

Über die EU-Skepsis seiner Landsleute ist er besorgt: "Es ist schade, dass die europäischen Werte wie Toleranz und Respekt bei vielen Menschen nicht angekommen sind. Stattdessen kommt nach dem Beitritt ein Referendum zum Verbot der gleichgeschlechtlichen Ehe, das die Mehrheit befürwortet. Soll das der Weg zu einer offenen Gesellschaft sein?"

Den Weg zu einer besseren Zukunft wollen Ana und ihr Freund gemeinsam gehen. Bald werden sie nach Zagreb ziehen. Er wird dort die Zweigstelle seines Fahrradgeschäfts ausbauen. Ana hat wieder eine Stelle als Kellnerin in Aussicht und bereits eine Wohnung organisiert. Bisher lebte sie bei ihren Eltern. "Ich will auf eigenen Beinen stehen und selbstständiger sein. In Zagreb ist das Leben zwar teurer, aber besser."

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Die Reportage entstand im Rahmen von eurotours 2014 – einem Projekt der Europapartnerschaft, finanziert aus Gemeinschaftsmitteln der Europäischen Union.
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