Ist Kiew doch zu Verhandlungen bereit? Vielleicht

Umkämpfte, annektierte Insel: Im Oktober beschoss die Ukraine die Krim-Brücke
Die Ukraine plant die Gegenoffensive – und stellt erstmals seit einem Jahr in Aussicht, mit Putin reden zu wollen. Wie viel davon Taktik ist, muss sich erst weisen.

Im Netz hat die ukrainische Gegenoffensive schon längst begonnen. Da sieht man Verteidigungsminister Oleksij Resnikow auf britischen Panzern posieren, es kursieren Drohnenaufnahmen neuer westlicher Fahrzeuge, man sieht US-Minenräumsysteme bei der Arbeit - sie sollen die breiten Minengürtel der Russen vernichten.

Wann und wie die echte Offensive startet, und ob die ukrainischen Streitkräfte dafür noch genügen Ressourcen haben, ist aber nicht so eindeutig wie die Botschaft dieser Videos. Denn: Für Kiew steht viel auf dem Spiel. Scheitert der Gegenstoß, könnte die westliche Waffenhilfe versiegen und der Druck auf Friedensverhandlungen steigen. Erst vergangene Woche sagte US-General Mark Milley wieder, dass ein Sieg nach Kiews Geschmack, also die Befreiung aller besetzten Gebiete inklusive der Krim, „eine sehr sehr schwierige Angelegenheit“ sei – im Westen geht nach wie vor die Angst um, dass Putin auf einen Krim-Vorstoß mit Nuklearwaffen reagieren würde.

Knackpunkt Krim

Diese Furcht versucht Kiew nun offensiv zu zerstreuen. In einem Interview mit der Financial Times ließ ein enger Berater von Präsident Selenskij wissen, dass Kiew im Falle einer erfolgreichen Gegenoffensive durchaus verhandlungsbereit wäre: „Wenn wir auf dem Schlachtfeld unsere strategischen Ziele erreichen und an die Verwaltungsgrenzen der Krim gelangen, so sind wir bereit, die diplomatische Seite zu öffnen und die Sache zu bereden“, sagte Andrij Sybiha.

Das ist eine überraschende Ansage. Zwar schloss Sybiha eine militärische Eroberung der Krim dezidiert nicht aus, aber bisher war ein Abzug der Russen von der 2014 annektierten Halbinsel stets Bedingung mehr für Kiew, um an den Verhandlungstisch zurückzukehren – der ist ja seit dem Massaker von Butscha im April verwaist.

Woher dieser Schwenk kommt, darüber wird heftig debattiert. Manche Beobachter vermuten ein Signal an den Westen, um mehr Unterstützung zu bekommen. Zuletzt häuften sich in ukrainischen Medien Berichte über schlecht ausgebildete Soldaten, fehlendes Equipment und ausbleibenden Sold. Andere wiederum vermuten, dass Moskau so über die Stoßrichtung der Offensive in die Irre geführt werden soll.

Eine militärische Rückeroberung der Krim wäre für Kiew zwar innenpolitisch wichtig, strategisch wollte man eine Schlacht um die Insel aber ohnehin eher vermeiden – aus Angst vor Partisanen ebenso wie wegen der Furcht, westliche Partner abzuschrecken. Die bevorzugte Strategie Kiews wäre ein militärische Blockade, die zu Gesprächen über einen geordneten Abzug der Russen führen könnten.

Neuer „Gamechanger“?

Möglich wäre auch das nur mit Waffen aus dem Westen. Eine große Rolle könnten dabei neben Panzern GLSDB-Gleitbomben spielen, von denen Kiew schon einige erhalten haben soll. Sie fahren im Flug Tragflächen aus und gleiten GPS- oder lasergesteuert zum Ziel, das bis zu 150 Kilometer entfernt sein kann – also fast das Doppelte der HIMARS-Munition, die Kiew derzeit einsetzt. HIMARS galten im Sommer als „Gamechanger“, weil damit russische Munitionslager oder Kommandounterstände getroffen wurden. Die GLSDB könnten den Ukrainern denselben Erfolg bescheren: Mit ihnen könnten sie von der Südfront bei Saporischschja bis zum Asowschen Meer wirken, also jeglichen Nachschub der Russen um Melitopol beschießen. Und auch von Cherson bis zur Krim sind es weniger als 150 Kilometer.

Unter russischen Militärbloggern macht sich darum Sorge breit, ob Moskau ausreichend darauf vorbereitet ist. Ein Blick auf Satellitenbilder zeigt: Seit September haben die Streitkräfte ihre Stellungen stark befestigt, auf der Krim wurden massiv Schützengräben ausgehoben, an der Front stehen Zehntausende Soldaten. Viele davon wurden allerdings im Schnellsiedeverfahren ausgebildet – das trifft jedoch auch auf einen nicht unerheblichen Teil der neuen ukrainischen Brigaden zu.

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