Israels radikale Siedler: Ein blutiges „Königreich Gottes“
„Hier kommt unser Schlafzimmer hin“, zeichnet Gilad eine imaginäre Linie auf die letzte Woche gegossene Betonplatte. „Und wo ist das Bad?“ fragt seine Verlobte Ora. Beide sind mit 17 Jahren noch nicht wehrpflichtig – und sehen so aus, als könnten sie ein Bad gebrauchen.
Im illegalen Außenposten Maos Esther gibt es in den Spanplatten-Hütten nur improvisierte Kaltwasserduschen. Ora mit Zopf und langem Rock ist züchtig gekleidet. Direkt von der religiösen Mädchenschule. Gilad mag es gemäß der Thora. Der Bart will noch nicht so, dafür wuchern seine Schläfenlocken umso wilder. Biblisch eben, sagen die einen. Anarchistisch, sagen die anderen und verweisen auf die Gewalt der letzten Wochen, als radikale Siedler in palästinensischen Dörfern wüteten und mordeten.
Neun Mädchen
Es waren neun Mädchen, die Maos Esther vor 16 Jahren gründeten. Allein. Auf einem Hügel nördlich von Ramallah. Inmitten palästinensischer Dörfer, deren Land sie einfach besetzten. Illegal, was auch nach israelischem Gesetz als Landraub gilt. Mehrfach wurden Maos Esthers Hütten von der Armee abgerissen. Und immer wieder von den Siedlern aufgebaut.
Auch das fertige Haus von Ora und Gilad wurde im Frühjahr 2022 von Bulldozern der Armee plattgemacht. Gilad war wütend. Aber: „Vor dem Militär habe ich keine Angst. Was abgerissen wird, wird aufgebaut.“ Für sein neues Haus hat er schon Betonziegel gestapelt.
Ora und Gilad gehören zur dritten Generation der Siedler im Westjordanland. Aus den Siedlungen ihrer Eltern und Großeltern wurden längst Villendörfer. Dem Nachwuchs unter den rot geziegelten Dächern wird es da oft zu spießig. Auch sie wollen „echte“ Pioniere sein. Aussteigen. Land ist wichtiger als Matura.
Die "Risiko-Jugend"
Andere kommen aus dem israelischen Kernland. „Risiko-Jugend“ nennt man sie, sie suchen eine neue Identität als Hügeljugend. Nach einigen fahndet die Polizei. Türschlösser knacken? Autos kurzschließen? Kein Problem. In den einsamen Farmen, die sich seit Jahrzehnten zwischen den Siedlungen ausbreiten, finden sie Dach, Essen und Lebenssinn. Ohne feste Regeln, Ideologie und Bevormundung. Einige bleiben Wochen, andere Jahre.
„Ich fühle mich als Soldatin“, erklärt Ephrat, eine Freundin Oras, „wir Mädchen hier auf unserem Hügel erobern mehr Land als die gesamte Kompanie Soldaten unten im Tal.“
Oras und Gilads Eltern sähen ihre Kinder lieber in der Schule. „Land besiedeln“ ist auch für sie heilige Pflicht. Doch bitte mit dem Segen der Baubehörde und der Armee. Und bestehender Infrastruktur. Wasser aus der Tonne? Strom aus dem Generator? Wozu das? Auch mit der Religion nehmen es die jungen Wilden nicht so genau. Zumindest nicht wie die religiösen Schulen, die sie verlassen haben.
Der Bruch 2005
Mit der Räumung des besetzten Gazastreifens im Jahr 2005 brach für viele israelische Siedler nicht nur eine Welt zusammen. Viele brachen damals auch mit Gott, der die Räumung zugelassen hatte. „Das ist ein wichtiges Motiv dieser Bewegung – die eigentlich keine ist, so unorganisiert wie sie abläuft“, schreibt der Anthropologe Shimi Friedman. Viele der Jugendlichen suchen darum eine neue Auslegung der Gesetze Gottes. Andere brechen ganz mit ihm. Landraub wird so zur „Landrücknahme“. Angriffe auf wehrlose palästinensische Hirten „Notwehr“.
Ephrat kennt da kein Zaudern: „Der Konflikt mit den palästinensischen Bauern ist nicht mein Lebensziel. Aber wenn die mich nicht akzeptieren, lassen sie mir keine Wahl. Wenn du dabei fest auftrittst, dann mucken die nicht auf.“
Systematische Anschläge
Die „Aktionen“ laufen schnell und spontan ab. „Einer ruft die anderen auf den benachbarten Hügeln zu Hilfe, wenn sich Palästinenser nähern.“ „Notwehr“ eben. Die Armee kann ein Lied davon singen. Auch die Kompanie Soldaten unten im Tal. Prügeleien und Steinhagel sind an der Tagesordnung.
„Über Jahre hat das Militär nur halbherzig eingegriffen oder zur Seite geschaut“, kritisierte die Tageszeitung Haaretz. Da ging es nicht mehr nur um unzählige Übergriffe. Ein harter Kern der Hügeljugend führte da schon systematische Anschläge gegen palästinensische Dörfer durch. Meist nach Terror-Anschlägen gegen Juden. Ihr Tiefpunkt: Bei einem nächtlichen Brandanschlag im Dorf Duma verbrannten Mutter, Vater und ein Säugling, ein Kind überlebte nur mit schwersten Verbrennungen.
„Preisschild“ nannten diese Gruppen sich. Meir Ettinger führte damals die Gruppe „Rebellion“. Ihr Ziel: einen umfassenden Krieg zu provozieren. Durch Terror gegen Muslime und Christen. Der Krieg soll zum Ende des Staates Israel führen. Ein theokratisches jüdisches Königreich soll dann folgen.
„Dieser Staat lässt sich nicht reformieren“, wird Ettinger zitiert, „es ist billiger, alles abzureißen und neu aufzubauen.“ Für seine Gruppe „Rebellion“ war „Zionist“ ein Schimpfwort. Sie kämpfte gegen weltliche Zionisten. Die Mitglieder der „Rebellion“ sahen sich als Hebräer: auf dem Sprung zurück in die Zeit vor der Heiligen Schrift.
Letzte Woche zeigte sich in neuer Härte, wozu sie fähig sind. Nach einem Doppelmord an zwei Israelis stürmten Hunderte Siedler aus der Umgebung das Städtchen Hawara. Sie hinterließen eine Blut- und Brandspur. Mit einem Toten, Hunderten Verletzten und Dutzenden verbrannten Häusern und Autos. Der zuständige Militärbefehlshaber: „Wir jagen noch die Täter, da fallen diese Randalierer über den Ort her. Wir hätten das verhindern müssen und auch können.“
Extreme in der Regierung
Gehen Israels Sicherheitskräfte jetzt schärfer gegen die Randalierer vor? Wenn die jungen Wilden in Netanyahus Koalition sitzen? Wie der Abgeordnete Zwi Sukkot, Ex-Mitglied der „Rebellion“. Wie sein radikaler Parteichef Itamar Ben Gvir hat er seinen Ton gemildert. So weit, dass seine Partei und er selbst nicht länger vor dem Gesetz als Unterstützer des Terrors und rassistische Hetzer einzustufen sind.
Auch Elisha Yered, ihr Parteisprecher, kommt aus der Hügeljugend. Nach der ersten Sitzung im Parlament fand er am Abend sein Haus im Außenposten Ramat Migron zerstört vor. Die Jungen Wilden sitzen in Regierung und gleichzeitig in Opposition.
"Missverständnisse" vorprogrammiert
Auch unter der neuen Regierung zerstörte die Armee illegale Außenposten. Verteidigungsminister Yoav Galant geht es ums Exempel. Solang es noch geht. Denn im Koalitionsabkommen mit Netanyahu ist abgemacht, dass extremistische Rechte in Zukunft für die Siedlungen zuständig sein sollen, eine Doppelspitze aus Militär und Siedlern. „Missverständnisse“ sind da vorprogrammiert. Hawara war das erste Signal.
Ex-Geheimdienstchef Juval Diskin, selbst lange für den Kampf gegen den jüdischen Terror zuständig, mahnte schon früh davor, dass die Räumung von israelischen Siedlungen zu Waffengewalt seitens der Siedler führe. Sein Rat klang, als hätten ihn die radikalen Siedler formuliert: „Ausharren. Bis es so schlecht wird, dass es nur noch besser werden kann. Das Volk begreift leider erst, wenn die Lage wirklich ganz schlecht ist.“
Als Siedlungen gelten Städte und Dörfer, die außerhalb der Grenzen des Waffenstillstands von 1949 liegen. Sie sind bis heute international nicht anerkannt.
Nach israelischem Recht illegal sind nur jene Siedlungen auf Palästinensergebiet, die ohne Genehmigung der Regierung in Jerusalem errichtet wurden. Ihr Abriss wird regelmäßig angeordnet.
700.000 Menschen leben insgesamt in israelischen Siedlungen.
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