Kapitalismus zieht im Kibbuz ein: Nur wer es sich leisten kann, bleibt Sozialist

Ein jüdischer Mann mit Kippa erntet Weizen auf einem Feld.
Früher lebten die Israelis den sozialistischen Traum im Kibbuz. Mit den Jahren gingen immer mehr Kollektivdörfer pleite. Jetzt heißt es darum: Privatisierung und Profit – und die Utopie, das war einmal.

Schachar, Dror und Chussan sitzen am kleinen Gartentisch. Nachts ist es in der Wüste Negev angenehm kühl. Die drei jungen Männer reden über Gott und die Fußballwelt und ihre Arbeit bei Negev Energy. Der 250 Meter hohe Turm des Solarkraftwerks ist nachts nicht zu sehen, tags überstrahlt die gleißende Spitze die Umgebung.

Sie und 430 weitere Einwohner leben im Kibbuz Tlalim, 1980 als letztes sozialistisches Kollektivdorf Israels gegründet. Der Kibbuz, das war vor mehr als 100 Jahren ein Traum vieler, ein utopisches, sozialistisches, zionistisches Projekt. Felix Salten, der Schöpfer Bambis, besuchte 1924 die ersten Kibbuzim in Palästina. Seine Einschätzung war visionär: Nur mit solchen zähen und genügsamen Gemeinschaften ist Israel zu errichten, danach hat der Kibbuz seine Schuldigkeit getan.

Hippies in Vollpension

1948, als der Staat gegründet wurde, gab es 177 Kibbuzim, in denen sieben Prozent der Bevölkerung lebten. Bis in die 1980er galt der Kibbuz weltweit als gesellschaftliche Alternative, „Kibbuzniks“ waren die Elite Israels. Heute gibt es zwar über 250, aber gerade noch 1,8 Prozent der zehn Millionen Israelis leben dort. Früher zogen die Dörfer auch Hunderttausende Volontäre aus aller Welt an, die im „freiwilligen Sozialismus“ arbeiteten, als „Hippies in Vollpension“. Mit dabei später weltbekannte Künstler wie Helen Mirren und Bob Dylan, Politiker wie Boris Johnson oder Komiker Jerry Seinfeld.

Eine Frau hockt und pflanzt Setzlinge mit einem kleinen Werkzeug.

Eine junge Kibbuz-Siedlerin in den 1930ern

Jetzt sind Freiwillige nur selten zu finden. „Heute kommen sie mehr aus Asien, vor allem Japan oder Korea“, erklärt Segui im Kibbuz Yotvata südlich von Tlalim. „Sie sind auch nicht mehr so wild und ungehemmt wie die Flower-Power-Generation damals.“

Bis in die 1980er-Jahre Jahre konnten die wirtschaftlichen Verluste der Kibbuzim noch kaschiert werden. Durch wohlwollende sozialdemokratische Regierungen, die Schulden erließen. Ein Jahrzehnt später war es eine neue Kibbuz-Generation, die gezwungen war, neue Wege zu suchen. Misserfolg hatte viele Namen: Pleite, Reform, Erneuerung, Umstellung. Selbst in den Kibbuzim, die von den alten Werten etwas in die neue Zeit retten konnten, gilt heute: Wer mehr Leistung einbringt, erhält mehr Lohn.

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Nur mehr Gastarbeiter

Tlalim war in den 1990-ern der erste Kibbuz, der privatisiert wurde. Dort arbeiten keine Volontäre mehr, sondern Gastarbeiter mit Visum. Sie stehen im riesigen Kuhstall unter dem Solardach, fast alles läuft per Computer. „Die Kühe melken sich eigentlich selbst“, grinst Nawin, „ich steh’ nur daneben.“ Der Stall ist der letzte Rest des alten Kibbuz.

„Privatisierung“ beschreibt nur verkürzt, was dahinter steht. „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen“ war fast über Nacht veraltet. „Plötzlich hatte ich eine Kreditkarte und ein Konto“, erinnert sich die 94-Jährige Eva aus Eyal. „Vorher war Bank für mich doch nur etwas zum Sitzen.“ Hinzu kam Probleme mit den Erben Verstorbener: Im Kollektiv gab es keinen Anspruch auf Erbschaft, über die privatisierten Ansprüche wird bis heute prozessiert. Einige Kibbuzim saßen auch auf Land, dessen Wert mit den Jahren plötzlich um Milliarden stieg.

Zuzug in die Kibbuzim gibt es wegen der explodierenden Wohnungspreise, in Tel Aviv können sich selbst Reiche keine Wohnung mehr kaufen, nur Superreiche, darum zieht es vor allem Familien in Kibbuzim im Umland – nicht mehr als „Genossen“, sondern als „Bewohner“. Gerade High-Tech-Arbeiter mit Homeoffice fühlen sich angesprochen, auch die Erziehungseinrichtungen, für die der Kibbuz seit eh und je berühmt ist, ziehen Neuankömmlinge an. In Tlalim entsteht sogar ein neues Viertel mit Villen, weitere Häuser sind geplant. Finanziert ist alles privat.

Drei Männer sitzen an einem Tisch im Freien und trinken Bier.

Schachar, Dror und Chussan im Kibbuz Tlalim

Allon kehrte nach 18 Jahren „draußen“ wieder nach Tlalim zurück. „Meine Kindheit ist unvergesslich. Auch meine Kinder sollen so frei aufwachsen können.“ Drorm, der auch hier geboren wurde, erklärt, warum ein privatisierter Kibbuz kein Dorf wie jedes andere ist: „Nicht nur die Häuser blieben stehen, auch viele Menschen blieben. Damit bleibt etwas, für das ich keine Worte finde, aber ich fühle es.“ Vielleicht hängt es damit zusammen, dass die Menschen im Kibbuz ihr Kollektiv auch als Familie verstehen.

Und reiche Kibbuzim? Gibt es die? Die Antwort ist einfach: Ja, die mit dem größten kapitalistischen Erfolg. Der Kibbuz Yesre´el verkauft Pool-Reiniger in alle Welt, vegetarischer Fleischersatz aus Lochamey Hagetaot findet sich von Melbourne bis New York. Der Kibbuz Schamir verkaufte diesen Sommer seinen Betrieb zur Herstellung optischer Linsen für eine halbe Milliarde Dollar. Auf 150 Genossen aufgeteilt, hätte das jeweils eine große Summe ergeben. Stattdessen überraschten sie sich selbst mit ihrer fast einstimmigen Entscheidung: Wir bleiben Kibbuz. Mit einem kollektiven Konto. Nur wer es sich leisten kann, bleibt Sozialist. Ohne Eigenkapital läuft auch der Kommunismus nicht.

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