Protest in Israel: „Niemand bringt uns zum Schweigen“
75 Jahre Israel. Der jüdische Staat ist nicht zuletzt wegen der Justizreform der Rechtsregierung Benjamin Netanjahus gespalten wie nie. Einheit gibt es nur im Kampf gegen die Raketen von außen
Begeistert verfolgten die Israelis diese Woche, wie Noa Kirel es in die Endrunde des Eurovision Song Contests schaffte. In die Live-Übertragung wurden Zivilschutz-Warnungen eingeblendet: „Bitte verbleiben sie in der Nähe von Schutzräumen.“
Kurz darauf folgte dem Lichterspektakel in Liverpool dann ein tödliches Feuerwerk im Süden Israels. Fast 500 Raketen feuerten die islamistischen Dschihad-Milizen aus dem Gazastreifen ab. Auch 75 Jahre nach Staatsgründung bleibt Israels Alltag überschattet vom ewigen Konflikt.
Für die Palästinenser ist der 15. Mai nicht der Gründungstag Israels. Für sie ist es der Tag der Naqba, ihres Fluchtdebakels. Die militanten Islamisten in Gaza schießen aus diesem Anlass, aber auch ohne Anlass. Vergangene Woche über 100 Raketen auf Israel. Israels Armee bombardiert dann „umgehend zurück“. Wobei diese Woche gezielt mehrere Befehlshaber des Dschihad getötet wurden. Aber auch einige ihrer Frauen und Kinder.
Im sonst so beschaulichen Rechovot nahe Tel Aviv tötete eine nicht abgefangene Rakete aus Gaza eine Frau und verwundete 13 Nachbarn. Auch die palästinensische Zivilbevölkerung in Gaza versucht unter Feuer Normalität zu bewahren. Schutzräume gibt es in Gaza aber nur für die islamistischen Machthaber.
„Hoffentlich schneidet Noa Kirel gut ab“, hofft der Journalist Sami Obeyd aus Gaza-Stadt, „sonst müssen wir das am Ende ausbaden.“
Der aufstrebende Staat
Nichts Neues unter der Sonne, predigt die Bibel. Doch sehen viele im Israel von heute viel Neues – und kaum noch Ähnlichkeiten mit dem jungen Staat von 1948, dessen Bevölkerung sich in den ersten Jahren verdoppelte. Mit heimatlosen Juden aus Nachkriegseuropa und Vertriebenen aus orientalischen Feindstaaten. Bis 1960 waren Nahrungsmittel für alle rationiert. Hunderttausende lebten unter schwierigsten Bedingungen in Transitlagern. Israel empfing sie als Einwanderer. Ihre Flucht galt als „Aufstieg“. In die Freiheit.
Damals lebte der Staat vor allem von seiner eher kargen Landwirtschaft. Heute ist Israel eine der weltweit führenden Startup-Nationen. Israels diplomatische Beziehungen reichen in alle Welt. Inzwischen auch in immer mehr arabische Länder. Wer erinnert sich noch an den arabischen Boykott? Als Firmen, die mit Israel handelten, in arabischen Staaten geächtet waren. Vergessen.
Forschungsweltmeister
Israels schwächelnde Währung unterlag Handelsbeschränkungen. Heute ist der Schekel beständiger als die meisten europäischen Währungen. Für Forschung und Entwicklung gibt Israel mehr aus als die EU-Staaten. Das Technion in Haifa gehört weltweit zu den 50 besten Hochschulen.
Israels Luftabwehrsysteme und Militärkommunikation wecken Interesse in NATO-Staaten ebenso wie in Saudi-Arabien. Im Weltvergleich wie im Blick zurück auf den jungen Staat schneidet Israel bestens ab.
Doch seitdem die neue Netanjahu-Regierung zum Jahreswechsel in die Ministerien einzog, wächst im Lande wie in der Welt die „Sorge um Israels Demokratie“. Mit äußerst umstrittenen Gesetzesinitiativen versucht Netanjahu eine Justizreform durchzupeitschen.
Putsch gegen Demokratie
Kritiker sehen in ihr einen Putsch gegen Israels Gewaltenteilung. Mit der angestrebten Entmachtung des Obersten Gerichtshofs können u.a. ungeliebte Minderheiten rechtsstaatliche Ansprüche verlieren. „Ja, wir wollen eine Majoritätsdemokratie – nur für Juden“, gab der rechtsextremistische Minister Itamar Ben Gvir unumwunden zu. Die Justizreform könnte dem bereits wegen Korruption angeklagten Netanjahu letztlich eine Verurteilung ersparen.
Früher war es gerade Netanjahus Likud-Partei, die die politische Einbeziehung der Rechtsextremen, wie sie heute passiert, boykottierte. „Likud-Gründer Menachem Begin rotiert in seinem Grab zusammen mit Staatsgründer Ben Gurion“, glaubt der Historiker Tom Segev.
Seit siebzehn Wochen protestieren Hunderttausende tagtäglich in allen Teilen des Landes. Selbst bekannte Befürworter einer pragmatischen Justizreform widersetzen sich Netanjahus radikalen Plänen.
Schon jetzt zeichnet sich ab, dass er seine „Reform“ am Ende kaum durchziehen wird können. Auch Hoffnungen, die Proteste durch zermürbende Experten-Debatten ins Leere laufen zu lassen, erweisen sich als verfrüht. Die Proteste schwächen sich nicht ab.
Warnende Kritik
Vor allem aber gerät Netanjahu durch warnende Kritik der Militärführung und aus Wirtschaftskreisen unter Druck. Israelis kämpfen. Wenn es sein muss, auch gegen die eigene Regierung. Vereinzelte Sympathiekundgebungen für die Regierung finden vor allem in religiös-nationalistischen Kreisen ein Echo. Die Teilnehmer der Massenproteste zeigen ein Spiegelbild Israels, mit Mittelstand, Akademikern und Arbeitern.
Ganz vorne weg: Reservesoldaten der Eliteeinheiten. Ausgerechnet Wehrdienstverweigerer Ben Gvir beschimpfte die protestierenden Piloten als „verräterischen Abschaum“. Die aber jetzt an der Front gegen die Islamisten wieder im Cockpit sitzen.
Nach erstem Fernbleiben zeigen sich jetzt auch Israels Araber vermehrt im blau-weißen Fahnenmeer der Proteste. „Wir leben zwar von den juristischen Brosamen, die vom Tisch der Juden fallen“, meint der Schriftsteller Muhamad Ali Taha, „aber auch um die lohnt sich zu kämpfen, wenn Diktatur droht.“
So sehr Netanjahus Politik Israel zu spalten droht: Eine ihrer ersten Folgen ist Einheit. Einheit im Protest. Einheit im Kampf gegen die Raketen. Einheit im Kampf um alltägliche Normalität. Trotz Raketenbedrohung wurde am Donnerstag in Tel Aviv ein Rock-Konzert nicht abgesagt. Rockstar Aviv Geffen brachte es vor 40.000 johlenden Israelis auf den Punkt: „Niemand bringt uns zum Schweigen.“
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