Islamwissenschaftlerin über Antisemitismus: "Als Jüdin würde ich mir Sorgen machen"
Lamya Kaddor erklärt, warum es bei den Nahost-Protesten in Städten so viele junge Muslime auf die Straße treibt – und wo präventiv gegen Antisemitismus anzusetzen ist.
KURIER: Auf deutschen Straßen gab es zuletzt judenfeindliche Parolen und Angriffe – was geht Ihnen da durch den Kopf?
Lamya Kaddor: Ich finde es befremdend, frustrierend und empörend. Es ist ein sehr sichtbarer, lauter und aggressiver Antisemitismus. Er schließt an jenen an, den wir seit langem in der Szene der sogenannten Querdenker sehen. Es ist gut, dass sich jetzt viele Politiker so deutlich melden und Antisemitismus bekämpfen wollen. Ich hätte mir das schon früher gewünscht.
Warum lassen sich so viele Menschen mit muslimischem Glauben so schnell und in so großer Zahl für diese Demonstrationen mobilisieren?
Der Nahost-Konflikt ist einer, der seit Jahrzehnten andauert und ungelöst ist. Das erklärt den Frust und die Emotionen, hinter denen sich auch anderes verbirgt. Aber ohne einen eingeschriebenen Antisemitismus ist diese Dynamik, die wir erleben, nicht zu erklären. Diese hasserfüllten antijüdischen Rufe. Vor den Synagogen stehen nicht nur palästinensisch-stämmige Menschen, sondern vielfach welche, die vom Nahost-Konflikt nicht mal direkt oder indirekt betroffen sind oder viel davon verstehen – darunter viele junge Menschen.
Was bringt junge Muslime dazu, auf die Straße zu gehen?
Israel als Feindbild hat sich bei ihnen etabliert. Der Gedanke, sich mit den Palästinensern gegen Israel zu solidarisieren, wirkt wie ein Reflex. Bei allen anderen Opfergruppen fehlt dieser. Das erklärt sich nur durch antisemitische Narrative, die es aus dem Spektrum des Islamismus in die Mitte der muslimischen Gemeinschaft geschafft hat. Zugleich fühlen sich viele selbst diskriminiert durch Islamfeindlichkeit und strukturellen Rassismus, etwa bei der Suche nach Arbeit, Wohnen oder Bildung. Hinzu kommen Anschläge wie in Halle oder Hanau. Wenn dann so ein symbolträchtiger Ort wie Jerusalem wieder zum Zentrum der Auseinandersetzung wird, kommt vieles zusammen. Man identifiziert sich schnell mit den ungerecht Behandelten und fühlt sich bemüßigt, für deren Rechte - und in Wirklichkeit für die eigenen Rechte - auf die Straße zu gehen. Dass funktioniert aber nicht, indem ich antisemitische und menschenverachtende Parolen rufe und Scheiben einwerfe.
Wie wirkt sich das auf türkischstämmige Menschen aus, wenn Präsident Erdoğan gegen Israel wettert?
Das heizt sie an. Die türkischstämmige Community ist immer noch eine prägende Gruppe mit Migrationshintergrund. Inzwischen haben wir jedoch auch viele eingewanderte Menschen aus Ländern wie Syrien, in denen die Feindschaft zu Israel Staatsräson ist. Allerdings darf man nicht allen pauschal Antisemitismus vorwerfen. Ähnliche Positionen zu Israel oder zum Judentum fallen auch in der Mehrheitsgesellschaft auf fruchtbaren Boden. Diese Melange ist sehr besorgniserregend. Wäre ich Jüdin, würde ich mir ernsthaft Sorgen machen, ob ich hier noch in Sicherheit leben kann. Das ist fürchterlich.
Was muss konkret gegen Antisemitismus getan werden?
Solche Ausfälle, wie wir sie gesehen haben, müssen natürlich strafrechtlich verfolgt und bestraft werden. Antisemitismus ist keine Meinung. Langfristig aber braucht es eine viel stärkere Präventionsarbeit auch im außerschulischen Bereich. Wir haben an der Uni Duisburg-Essen Jugendliche befragt und festgestellt, dass sie nur an Schulen mit den Nazi-Verbrechen und mit dem Antisemitismus konfrontiert sind. Kaum jemand spricht mit der eigenen Familie oder Freunden darüber. Die Auseinandersetzung mit aktuellem jüdischem Leben oder Erinnerungskultur findet nicht statt. Es braucht in den Ländern Beauftragte, die begleiten und kontrollieren, wie und ob die Standards der interkulturellen und rassismuskritischen Bildung eingehalten werden. Wir dürfen es nicht dem Zufall überlassen, ob jemand Kenntnisse über das Judentum hat oder weiß, was in Auschwitz passiert ist. In unseren Interviews wussten viele junge Menschen nichts über den Nahost-Konflikt oder haben Israel für ein Dritte-Welt-Land gehalten. Unter den Befragten gab es aber nicht nur muslimische Jugendliche.
Von sämtlichen Politikern wird jetzt eine stärkere Sensibilisierung arabischstämmiger Zuwanderer angemahnt.
Dem kann man prinzipiell zustimmen. Dennoch wirkt es bei manchen Politikern auf mich auch wie ein Ablenkungsmanöver. Sie wollen die Botschaft transportieren: Nicht die Mehrheitsgesellschaft sei antisemitisch, nur die bösen Muslime. Aber: Weder das eine, noch das andere stimmt. Man muss Antisemitismus bekämpfen ohne islamfeindlich zu argumentieren oder andere Gruppen auszugrenzen. Die Herausforderung einer Einwanderungsgesellschaft ist es, diese Differenzierung mitzudenken und entsprechend zu handeln. Dazu muss man auch sagen, dass die allermeisten Muslime in Deutschland natürlich nicht auf die Straße gegangen sind, sondern einige Tausend von fünf Millionen. Trotzdem sind sie ernst zu nehmen.
Hätten Sie sich erhofft, dass sich mehr Muslime für Frieden positioniert hätten?
Ja. Aber viele tun das im Stillen. Es gibt Mitgefühl für Palästinenser und Solidarität für Israel. Es wird jedoch oft nicht geäußert, weil einen der Diskurs zumeist zwingt, eine Seite einzunehmen – entweder pro-palästinensisch oder pro-israelisch. In meinem Umfeld erlebe ich, dass sich Menschen zurückhalten und nicht mehr kommentieren - aus Angst, sich angreifbar zu machen oder aus Resignation. Das ist insgesamt unserem Zeitgeist geschuldet, weil man vorsichtiger bei der Sprachauswahl ist. Das finde ich grundsätzlich gut, es darf aber nicht dazu führen, sich nicht mehr für Themen stark zu machen.
Zur Person:Lamya Kaddor ist Islam- und Erziehungswissenschaftlerin, Religionspädagogin, Autorin und Gründerin des Liberal Islamischen Bunds. Aktuell leitet sie ein Forschungsprojekt an der Universität Duisburg-Essen zum Thema "Antisemitismus im Jugendalter" und unterrichtet Islamische Religion am Landfermann-Gymnasium in Duisburg. Sie kandidiert im Herbst für die Grünen bei der Bundestagswahl.
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