Julia Timoschenko: "Wären wir in der NATO, gäbe es keinen Krieg"

Julia Timoschenkos Muttersprache ist eigentlich Russisch. Das Gespräch führt die 61-Jährige – wie alle Politiker des Landes – aber auf Ukrainisch, ganz selbstverständlich. Der KURIER traf die Ikone der anti-russischen Revolutionsbewegung in Wien.
KURIER: Die russischen Streitkräfte sind in der Defensive. In Moskau ist von einem Atomangriff die Rede. Schenken Sie dem Glauben?
Julia Timoschenko: Ein Nuklearangriff im 21. Jahrhundert, das klingt unrealistisch. Aber: Auch wenn die Wahrscheinlichkeit einer nuklearen Attacke gering ist, sie ist da. Es ist eine von Putins Stärken, ständig internationale Regeln zu brechen. Jetzt steckt er in einer Sackgasse. Wir müssen daher auf das Schlimmste vorbereitet sein, brauchen aber auch eine Exit-Strategie aus diesem Erpressungsszenario: Wir sollten nicht auf einen Angriff warten, sondern ihm zeigen, mit welchen Konsequenzen er zu rechnen hätte – dass er dann mit seiner endgültigen Niederlage rechnen muss.müsste.
Wegen der Nukleargefahr wird im Westen mehr Diplomatie gefordert. Bisher hat Moskau aber alle Gespräche boykottiert. Kann man mit Putin überhaupt verhandeln?
Die Zeit für Verhandlungen ist vorbei. Macron, Scholz, NATO-Generalsekretär Stoltenberg, sogar der Papst hat es versucht. Die russischen Bedingungen – eine Entwaffnung der Ukraine, eine Legalisierung der Okkupation – sind kein Weg zum Frieden, sondern ein Weg zu einem weiteren Krieg. Wir haben keine Wahl: Nur ein Sieg am Schlachtfeld ebnet den Weg zu Friedensgesprächen.
Von außen hat man den Eindruck, die Ukraine spreche mit einer Stimme. Sie und Selenskij waren aber immer politische Gegner. Wie kommen Sie miteinander klar?
Vor dem Krieg waren wir Gegner, das stimmt. Wir kritisierten viel an ihm. Am ersten Kriegstag, als die Raketen auf Kiew fielen, trafen wir uns aber und gaben uns die Hand. Seither gibt es nicht mehr viele Lager, sondern nur ein Team Ukraine. Der Sieg ist wichtiger als innenpolitische Konflikte. Aber ich bin überzeugt, dass es nach Ende des Krieges wieder politischen Streit geben wird. Dafür haben die Menschen 2013 bei der Revolution ihr Leben gegeben, und auch jetzt sterben sie wieder für diese Werte.

Timoschenko im Jahr 2004 bei den Maidan-Protesten
Sie haben 2008 als Ministerpräsidentin den Antrag für den NATO-Beitritt gestellt. Putin behauptet, die NATO-Erweiterung sei „schuld“ an der Eskalation. Hat der Westen etwas falsch gemacht – im Umgang mit der Ukraine, und auch mit Russland?
Wenn die NATO uns nach 2008 tatsächlich aufgenommen hätte, wären Zehntausende noch am Leben – wir hätten keinen Krieg. Das war ein tragischer Fehler, der nach Kriegsende rückgängig gemacht werden sollte. Nicht die Stärke eines Landes oder eines Bündnissen provoziert einen Angriff, sondern seine Schwäche. Der Grund für den Krieg ist daher ebenso wenig die NATO oder der „böse“ kollektive Westen, sondern allein Putins absurde Vorstellung, er könne den Westen besiegen, Regierungen liquidieren, die Weltordnung erschüttern, um dann neue Grenzen zu ziehen und ein Imperium auferstehen lassen. Und: Wenn er wirklich so viel Angst vor der NATO hat, wieso ist er dann über die Mitgliedschaft Schwedens und Finnlands nicht so wütend wie über die der Ukraine?
Die Unterstützung für den Krieg in Russland ist groß. Es ist also nicht nur Putins Krieg, sondern auch der Krieg vieler Russen. Auch wenn Putin einmal nicht mehr an der Macht ist: Wird der Krieg in den Köpfen jemals enden können?
Viel hängt von der Führung eines Landes ab. Putin ist ein Beispiel für absolut schlechte Führung: Er wollte die Demilitarisierung der Ukraine, bekommen hat er die Demilitarisierung seines eigenen Landes – und die militärische Aufrüstung der Ukraine. Er wollte, dass die NATO auf die Grenzen von 1997 schrumpft, im Endeffekt hat das Bündnis zwei neue Mitglieder. Er wollte die Ukraine als Nation auslöschen, nun beginnt dieser Prozess aber in Russland. Nicht, dass wir uns das wünschen oder provozieren wollen, aber: Russland könnte auseinanderfallen. Und ja, die Wunden, die Russland uns und anderen Staaten gerade zufügt, werden lange nicht heilen. Leider.
Sie haben Putin einige Male selbst getroffen. Agiert er rational? Oder regiert im Kreml ein Verrückter, wie viele mutmaßen?
Ich sage ganz klar: Er ist nicht verrückt. Was ihn leitet, nenne ich „finstere Vernunft“ – er hat falsche Ziele, verzerrte Ambitionen, aber eine rationale Vorgehensweise. Seine Logik ist: Internationale Regeln kann man verletzen, moralische Grenzen auch. Die Welt hatte bisher kein Rezept, um ihn aufzuhalten – das ist es, was wir brauchen, um wieder eine funktionierende internationale Sicherheitsordnung herzustellen.
Die Gas-Oligarchin: Zu Beginn ihrer Karriere hatte Julia Timoschenko den Beinamen „Gasprinzessin“ – die Ostukrainerin war nach 1991 mit Gasimporten schwerreich geworden. Als Politikerin legte sie sich mit der kremltreuen Regierung an, wurde mit ihrem traditionellen Haarkranz zur Ikone der Maidan-Proteste 2004 und 2013
Liebling des Westens: Die Pro-Europäerin war zweimal Ministerpräsidentin und saß zweimal in Haft – immer aus politischen Motiven. Bei der Präsidentschaftswahl 2019 verlor sie gegen Selenskij
Kommentare