Jean Ziegler: "Konzerne entscheiden, wer isst und wer stirbt"
Kriege, Klimawandel und ein System, in dem Konzerne über die Leistbarkeit von Nahrung entscheiden: Jean Ziegler prangert auch noch mit 90 Jahren die westliche Schuld am Welthunger an.
"Ich war total ineffizient." So sieht Jean Ziegler, der am 19. April 90 Jahre alt wird, seine Zeit als Sonderberichterstatter und Vizepräsident des Beratenden Ausschusses des UN-Menschenrechtsrats. In dieser Zeit sei der globale Hunger, sein ewiger Gegner, nicht gesunken, sondern gestiegen.
Einer der bekanntesten, internationalen Globalisierungskritiker übt Selbstkritik. Viele Aussagen des Schweizer Soziologen sind bekannt, doch bringen sie die Dramatik der Weltlage heute wie damals auf den Punkt. Im Interview mit dem KURIER prangert er die Schuld des Westens am Welthunger an, legt Lösungsmaßnahmen vor und übt scharfe Kritik am Staat Israel, der den Hunger bewusst als Kriegswaffe gegen die palästinensiche Bevölkerung einsetze.
KURIER: Herr Ziegler, ist es möglich, den Hunger auf der Welt zu beenden?
Jean Ziegler: Der Hunger ist keine Fatalität. Er ist menschengemacht. Er könnte von Menschen morgen aus der Welt geschaffen werden. Dem World Food Report der UN zufolge stirbt alle fünf Sekunden ein Kind unter zehn Jahren an Hunger oder den unmittelbaren Folgen. Derselbe Bericht sagt, die Weltlandwirtschaft, wie sie heute ist, könnte problemlos 12 Milliarden Menschen ernähren, fast das Doppelte der gegenwärtigen Weltbevölkerung, wenn Nahrungsmittelverteilung und Zugang nicht von der finanziellen Kaufkraft des Konsumenten abhängig, sondern ein universelles Menschenrecht wäre. Jedes Kind, das jetzt, während unseres Gesprächs an Hunger stirbt, wird ermordet.
Welche konkreten Maßnahmen bräuchte es denn, um den Hunger zu minimieren?
Zum Beispiel ein Ende der Börsenspekulation auf Grundnahrungsmittel. Das treibt die Weltmarktpreise in die Höhe. Und man müsste sofort die Auslandsschulden der ärmsten Länder der Welt streichen. 37 der 54 Staaten in Afrika sind reine Agrarstaaten. Ihre Produktivität von Getreide ist sehr gering. In einem normalen Jahr – ohne Krieg, ohne Dürre – gibt ein Hektar Land in der Sahelzone bis zu 700 Kilogramm Getreide. Bei uns sind es auf derselben Fläche 10.000 Kilo. Nicht weil der afrikanische Bauer weniger kompetent oder arbeitsam ist, sondern weil der europäische Bauer über Bewässerung, Dünger und Markterschließung verfügt. Während der afrikanische Bauer in einem verschuldeten Staat lebt, der keine Subventionen finanzieren kann.
Auch das Agrar-Dumping der europäischen Staaten am Weltmarkt müsste sofort gestoppt werden:Die europäischen Staaten sind überproduktiv, wir haben eine stark subventionierte Agrarpolitik. Damit die Preise auf dem europäischen Markt aber gehalten werden können, werden Überschüsse zu Billigpreisen auf dem afrikanischen Markt angeboten. Dort unterbieten sie lokale Produkte und sorgen dafür, dass der afrikanische Bauer seine Ware nicht anbringt. Wir Europäer bringen den afrikanischen Bauer damit um seinen existenzsichernden Lohn.
Jean Ziegler, geboren als Hans in der Schweizer Stadt Thun und von Simone de Beauvoir in "Jean" umbenannt, ist einer der lautesten Kapitalismuskritiker. Er war bis 1999 Nationalrat im eidgenössischen Parlament, von 2000 bis 2008 UNO-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung und gehörte der UNO-Task Force für humanitäre Hilfe im Irak an. Von 2009 bis 2019 war er Vizepräsident des Beratenden Ausschusses des UNO-Menschenrechtsrates (MRR bzw. UNHRC) in Genf, den er heute noch berät.
Inwiefern bedrohen durch den Klimawandel bedingte Extremwetterereignisse den Kampf gegen den Welthunger?
Ein Drittel des Agrarbodens des afrikanischen Kontinentes ist Trockenboden, dort fallen 250 Millimeter Regen pro Quadratmeter im Jahr. Landwirtschaft ist ohne künstliche Bewässerung nicht möglich. Aber nur 3,5 Prozent des Agrarbodens südlich der Sahara werden aktuell künstlich bewässert. Der Rest ist Regenlandwirtschaft wie vor 3.000 Jahren. Der Klimawandel ist eine unglaubliche Bedrohung für den Kampf gegen den Welthunger.
Welche Rolle spielt die UNO in diesem Kampf? Und was müsste sich ändern, um erfolgreich zu sein?
Die UNO ist machtlos gegenüber großen Konzernen. Zwei Beispiele: Im Jahr 2000 wurden die Millenniumgoals, die Millenniums-Entwicklungsziele, ausgerufen. Alle Staats- und Regierungschefs haben festgelegt, zusammenzuarbeiten, um die Zahl der Hungeropfer bis 2015 zu halbieren. Ein totaler Misserfolg. Die Zahl der hungernden Menschen weltweit wurde nicht halbiert, sondern ist gestiegen – auf fast eine Milliarde Menschen. 2015 folgte ein neuer Versuch: die Sustainable Development Goals, die Ziele für nachhaltige Entwicklung. Bis 2030 wollte die UNO die 17 größten Tragödien aus der Welt schaffen. Als erstes Ziel: den Welthunger. Schon jetzt weiß man, dass das nicht gelingen wird.
Das Problem ist, dass nie konkrete Maßnahmen zur Erreichung der Ziele formuliert wurden, wie ein Ende der Börsenspekulation oder ein Verbot des Agrar-Dumpings oder des Land-Grabbings. Die UNO ist eine zahnlose, politisch ineffiziente Organisation in der Hungerbekämpfung.
Wie sehen Sie Ihre Rolle als ehemaliger UNO-Sonderberichterstatter für Nahrungssicherheit?
In meiner Zeit als Sonderberichterstatter und dann als Vizepräsident des Beratenden Ausschusses des UN-Menschenrechtsrats ist der Hunger gestiegen. Ich war total ineffizient. Trotzdem glaube ich, dass ich nicht aus Zufall auf dieser Welt bin. Mein Leben hat einen Sinn. Die menschliche Geschichte hat einen Sinn. Das gibt mir die Kraft und den Willen zu kämpfen. Würde ich aufhören zu kämpfen, auch wenn die Aussichten düster sind, könnte ich mich nicht mehr im Spiegel anschauen. "Wer kämpft, kann verlieren, wer nicht kämpft, hat schon verloren," hat Brecht gesagt.
DemSustainable Development Goals Report 2023 der UN zufolge ist die Zahl der Hungerleidenden seit 2015 trotz internationaler Bemühungen stetig gestiegen. 2022 litten insgesamt 735 Millionen Menschen (122 Millionen mehr als 2019) oder 9,2 Prozent der Weltbevölkerung chronisch Hunger. Schätzungsweise 45 Millionen Kinder unter fünf Jahren waren extrem unterernährt. Ursachen seien besonders der weltweite Preisanstieg von Lebensmitteln und ausbleibende Ernte wegen Extremwetterereignissen. Um das Ziel, dem Welthunger ein Ende zu setzen, bis 2030 zu erreichen, sei ein grundlegender Richtungswechsel erforderlich, so der Bericht.
Spüren Sie Verzweiflung angesichts der Weltlage?
Es ist schrecklich, dass Hunger weiterhin als Kriegswaffe eingesetzt wird. Der Krieg in Gaza ist ein Beispiel, aber leider nicht das einzige: Am 7. Oktober 2023 hat die Terror-Organisation Hamas in Südisrael fürchterliche Verbrechen begangen. Israel hat darauf mit einem Krieg gegen die Hamas geantwortet, aber gleichzeitig einen Vernichtungsfeldzug gegen die palästinensische Zivilbevölkerung angeordnet. 2,8 Millionen Menschen leben auf 365 Quadratkilometern im Getto von Gaza. Die israelischen Bombardements auf die Zivilbevölkerung sind ein Völkermord und haben bisher über 40.000 Menschen, 70 Prozent Frauen und Kinder, getötet und 260.000 schwer verletzt. Dazu kommt, dass Israel als Waffe eine totale Nahrungsmittelblockade angeordnet hat. Tausende und Tausende Kinder sterben in diesen Tagen an Hunger. Der Hunger als Waffe zur Vernichtung unliebsamer Menschen, das ist grauenhaft. Und die Weltgemeinschaft ist unfähig, einen sofortigen Waffenstillstand durchzusetzen.
Gleichzeitig hat sich endlich die Überzeugung durchgesetzt, dass der Hunger menschengemacht ist. Diese Erkenntnis ist ein Fortschritt. Der Aufstand des Gewissens ist nahe.
Das ist sehr poetisch formuliert. Was meinen Sie konkret?
Die Herrschaftsländer dieser Welt, die EU, die USA, etc., sind meist demokratische Länder, wo die Bürger von der Regierung verlangen und durchsetzen können, dass die Agrarstrukturen der Welternährungssituation geändert werden. Zehn Großkonzerne kontrollieren, transportieren und verteilen 85 Prozent aller Nahrungsmittel. Sie entscheiden jeden Tag, wer isst und wer überlebt, wer Hunger leidet und stirbt. Wir in Österreich, in der Schweiz, in Europa sind verantwortlich. Und unser Nichtstun provoziert die Absenz der Reformen und damit die Massenvernichtung des Hungers.
Sie sind Mitglied des "Rats der Republik", einer Kunstinszenierung der Wiener Festwochen. Gegen Sie, die französische Schriftstellerin Annie Ernaux und den griechischen Links-Politiker Yanis Varoufakis gibt es Vorwürfe des Antisemitismus. Wie antworten Sie darauf?
Das ist Blödsinn. Eine Kritik am Genozid einer rechtsextremen Regierung an Zivilpersonen hat nichts mit Antisemitismus zu tun. Antisemitismus ist ein Verbrechen. Die "Freie Republik" ist eine gute Sache, Milo Raul ist ein Freund von mir. Was er tut, ist außerordentlich beeindruckend.
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