Manisha Reuter: Indien will nicht unbedingt eine Weltmacht sein. Es hat vielmehr den Anspruch, in einer größeren, multipolaren Weltordnung – und nicht in einer bipolaren zwischen China und den USA – ein weiterer Pol zu sein. Das geht mit einem neuen Selbstbewusstsein einher, das einerseits durch Ereignisse wie die Mondlandung verstärkt wird und andererseits durch das westliche Interesse an Indien, das viel größer ist als noch vor ein paar Jahren.
Was ist das außenpolitische Ziel der Regierung Modi?
Sicherheit. China provoziert an verschiedenen Ecken der Welt, aber Indien ist das einzige Land, das einen aktiven Militärkonflikt mit China hat – an der Grenze im Himalaya. Das dominiert das außenpolitische Denken der Regierung und führt dazu, dass Indien ein Gegengewicht zu China werden möchte. Auch den Pakistan-Faktor dürfen wir nicht vergessen. Indien liegt zwischen zwei Atommächten, mit denen es Grenzkonflikte hat. Wir sehen heute, was es bedeutet, Russland als geografischen Nachbarn zu haben, und wie das die Außenpolitik europäischer Länder bestimmt. Indien hat schon viel länger mit so einer Sicherheitsbedrohung zu tun.
Könnte Indien ein Verbündeter des Westens sein, etwa für eine gemeinsame China- oder Russland-Politik?
Der Westen müsste an seiner Definition von „Verbündeten“ arbeiten. Indien ist kein klassischer „Wertepartner“, wie die EU ihn sich vorstellt. Indien ist auch nicht der klassische, militärische „Allianzpartner“, wie die USA ihn gerne hätten. Indien tut ausschließlich das, was für sich selbst am besten ist. Für die EU ist das nicht immer nachvollziehbar, weil wir ein Mehr-Ebenen-Spiel spielen.
Indien ist nicht mehr das Land, das es in den 90ern war – eins, das Entwicklungshilfe von uns braucht. Wenn wir Indien als gleichwertigen Partner akzeptieren, der mit uns aber kein Militärbündnis eingehen wird, dann kann Indien in vielen Bereichen ein Partner für den Westen sein. Beim Thema Klimaschutz und erneuerbare Energien wäre das sogar ein Muss.
Wie sieht Indien Europa?
Sehr pragmatisch. Europa ist für Indien ein weiterer Pol, mit dem man zu bestimmten Themen kooperieren kann – genauso wie die USA, Japan, Australien. Indien präferiert nicht, sondern schaut, was es mit wem am besten machen kann. Frankreich ist etwa einer der größten Waffenlieferanten für Indien, Deutschland ein wichtiger Handelspartner. Womit die Inder noch Schwierigkeiten haben, ist, die EU und ihre Kompetenzvergabe zu verstehen. Aber wer kann ihnen das vorwerfen?
Welche Rolle spielt Großbritannien als Ex-Kolonialmacht?
Großbritannien ist für die EU-Indien-Beziehungen ein Fluch und Segen zugleich. Einerseits hat die EU durch den Brexit hier viele Kompetenzen verloren. Im EU-Parlament gab es zum Beispiel einige britische Parlamentarier, die indischer Abstammung waren und sich kulturell mit Indien auskannten – die sind jetzt weg. Andererseits muss die EU sich heute eigene und neue Kooperationswege mit Indien schaffen. Das ist eine große Chance.
Wie könnte Indien sich in den nächsten zehn Jahre verändern?
Indien ist ein Vorreiter, was Digitalisierung angeht, davon werden wir mehr sehen. Wir werden beobachten, wie Indien weiterwächst – ökonomisch, aber auch von der Bevölkerungszahl her. Die Frage ist, ob es Modi – oder wer auch immer die Wahlen nächstes Jahr gewinnt – gelingt, Indien nicht nur zu einem großen, sondern auch zu einem mächtigen Land auszubauen.
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